13
Schon lange hatte er die Nacht nicht mehr mit ihnen verbracht. Es waren schöne Träume gewesen.
Am nächsten Morgen holte er Croissants, und sie frühstückten gemeinsam in Paulettes Zimmer. Der Himmel war sehr blau. Philibert und sie ergingen sich in tausend Höflichkeiten, während Franck und Camille sich still an ihren Schalen festhielten.
Franck fragte sich, ob er das Bettzeug wechseln sollte, und Camille fragte sich, ob sie einiges anders handhaben sollte. Er suchte ihren Blick, doch sie war nicht mehr da. Sie war bereits in der Rue Séguier, in Pierre und Mathildes Salon, kurz davor, zu kneifen und zu fliehen.
Wenn ich es jetzt wechsle, traue ich mich nicht mehr, mich ein Stündchen hinzulegen, und wenn ich es nach dem Mittagsschlaf wechsle, wirkt es ein bißchen plump, oder? Ich hör sie schon kichern …
Oder aber ich gehe in der Galerie vorbei? Gebe meinen Karton bei Sophie ab und verdrücke mich gleich wieder?
Außerdem, vielleicht legen wir uns ja gar nicht hin … Vielleicht bleiben wir ja stehen, wie im Film, und sind ganz … eh …
Nein, das ist keine gute Idee … Wenn er da ist, wird er mich zurückhalten und mich zwingen, mit ihm zu reden … Ich will aber gar nicht reden. Mir ist sein Gelaber egal. Entweder er nimmt’s oder er nimmt’s nicht. Fertig, aus. Und sein Geblubber kann er sich für seine Kunden aufsparen …
Ich werde in der Umkleide duschen, bevor ich gehe …
Ich nehme ein Taxi und bitte den Fahrer, vorm Eingang in zweiter Reihe zu warten …
Die Besorgten und die Sorglosen, alle wischten seufzend ihre Krumen weg und gingen brav auseinander.
Philibert war bereits in der Diele. Mit der einen Hand hielt er Franck die Tür auf, in der anderen trug er einen Koffer.
»Fährst du in Urlaub?«
»Nein, das sind Requisiten.«
»Wofür das denn?«
»Für meine Rolle …«
»Oh wow … Was ist das denn für ein Stück? So eine Mantel-und-Degen-Schwarte? Stürmst du durch die Gegend und so?«
»Aber natürlich … Ich baumele im Vorhang und werfe mich in die Menge … Los … Hinaus mit dir, oder ich spieß dich auf …«
Himmelblau verpflichtet: Camille und Paulette gingen »in den Garten«.
Der alten Frau fiel das Gehen zusehends schwerer, und sie brauchten fast eine Stunde für die Allée Adrienne-Lecouvreur. Camille kribbelte es in den Beinen, sie hakte sie unter, stellte sich auf ihre kleinen Schritte ein und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sie das Schild Nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmern vorbehalten, bitte Tempo mäßigen sah … Sie blieben nur stehen, um Touristen zu fotografieren, Jogger vorbeizulassen oder mit anderen Marathonläufern in Mephistoschuhen ein paar nichtssagende Worte zu wechseln.
»Paulette?«
»Ja, meine Kleine?«
»Schockiert es Sie sehr, wenn ich das Thema Rollstuhl anschneide?«
»…«
»Tja … Es schockiert Sie also …«
»Bin ich denn schon so alt?« flüsterte sie.
»Nein! Keineswegs! Im Gegenteil! Ich dachte nur … da wir mit Ihrem Wägelchen ständig steckenbleiben, könnten Sie so lange damit gehen, bis Sie müde sind. Anschließend könnten Sie sich ausruhen, und ich nehme Sie mit bis ans Ende der Welt!«
»…«
»Paulette … Ich habe diesen Park über. Ich kann ihn nicht mehr sehen. Ich glaube, ich habe alle Steine, alle Bänke und alle Beutelboxen für Hundekot gezählt. Es sind elf insgesamt. Ich habe diese schrecklichen Busse über, ich habe diese phantasielosen Gruppen über, ich bin es leid, immer wieder denselben Leuten zu begegnen. Der blöden Fratze der Wächter und dem anderen Typen, der hinter seinem Ehrenlegionsabzeichen nach Pisse stinkt. Es gibt in Paris noch so viel zu sehen. Läden, kleine Gäßchen, Hinterhöfe, überdachte Passagen, den Luxembourg, die Bouquinisten, den Park von Notre-Dame, den Blumenmarkt, die Seine-Ufer, den … Nein, ich sage Ihnen, die Stadt ist wunderschön. Wir könnten ins Kino gehen, ins Konzert, Operetten hören, mein schönes Veilchensträußchen und das ganze Tamtam. Im Moment sind wir an dieses Altenviertel gebunden, wo alle Kinder gleich angezogen sind, wo alle Kinderfrauen die gleiche Miene aufsetzen, wo alles so vorhersagbar ist. Das ist ätzend.«
Stille.
Sie wurde auf ihrem Unterarm immer schwerer.
»Na gut, ich will ehrlich zu Ihnen sein. Ich versuche gerade, Sie zu beschwatzen, aber in Wahrheit geht es gar nicht darum. In Wahrheit bitte ich Sie um einen Gefallen. Wenn wir einen Rollstuhl hätten und Sie sich von Zeit zu Zeit hineinsetzen würden, könnten wir in den Museen an all den Schlangen vorbei und immer als erste hineingehen. Und mir, verstehen Sie, käme das sehr entgegen. Es gibt zahlreiche Ausstellungen, die ich unbedingt sehen möchte, aber ich habe nicht die Energie, mich anzustellen.«
»Warum hast du das nicht gleich gesagt, du Gänschen! Wenn ich dir damit einen Gefallen tun kann, kein Problem! Mehr will ich ja gar nicht, als dir was Gutes tun!«
Camille biß sich auf die Wangen, um nicht zu lachen. Sie senkte den Kopf und gab ein leises Dankeschön von sich, das ein wenig zu ernst klang, um ehrlich zu sein.
Schnell, schnell! Laßt uns das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Im Eilschritt ging’s in die nächste Apotheke.
»Wir arbeiten sehr viel mit dem Classic 160 von Sunrise. Das ist ein faltbares Modell, das unsere Ansprüche zur vollen Zufriedenheit erfüllt. Es wiegt nicht viel, ist einfach zu handhaben, vierzehn Kilo. Neun ohne die Räder. Ausziehbare Fußstütze, die als Fußantrieb dienen kann. Armstützen und Höhe der Rückenlehne verstellbar … Verstellbarer Neigungswinkel der Sitzfläche. Ach nein! Das ist die Sonderausstattung. Leicht abnehmbare Räder. Paßt problemlos in jeden Kofferraum. Verstellbar auch die Höhe des … eh …«
Paulette, die sie zwischen Trockenshampoos und den Ständer mit Fußpflegeprodukten plaziert hatten, zog ein derart langes Gesicht, daß die Apothekenhelferin nicht wagte, ihren Monolog zu Ende zu führen.
»Gut, bitte entschuldigen Sie mich. Ich habe Kundschaft. Hier, das ist die Beschr…«
Camille kniete hinter ihr auf dem Boden.
»Nicht schlecht, oder?«
»…«
»Ehrlich gesagt hatte ich es mir schlimmer vorgestellt. Ein sportliches Modell ist das. In Schwarz wie der hier sogar richtig chic.«
»Also wirklich! Sag doch gleich, daß er mir gut steht, wenn du schon dabei bist!«
»Sunrise Médical. Die haben aber auch Namen. 37 … Das ist doch bei Ihnen in der Nähe, oder?«
Paulette setzte die Brille auf:
»Wo?«
»Hm … Chanceaux-sur-Choisille.«
»Oh! Ja, natürlich! Chanceaux! Ich weiß genau, wo das ist!«
Alles klar.
Gott sei’s gedankt. Ein Departement weiter, und es wären ein Pediküre-Set und orthopädische Hausschuhe dabei herausgekommen …
»Wie teuer kommt der?«
»558 Euro plus Mehrwertsteuer …«
»Alle Achtung … Können … können wir den nicht mieten?«
»Nicht dieses Modell. Zum Mieten gibt es ein anderes. Robuster und schwerer. Aber Ihre Versicherung deckt doch alles ab, oder? Sie haben doch eine Zusatzversicherung, nehme ich an …«
Sie hatte das Gefühl, mit zwei alten zurückgebliebenen Jungfern zu sprechen.
»Sie werden den Rollstuhl doch nicht selbst bezahlen! Gehen Sie zu Ihrem Arzt und lassen Sie ihn sich verschreiben … In Ihrem Zustand dürfte das kein Problem sein … Hier, ich gebe Ihnen diese kleine Broschüre mit … Darin finden Sie alle Angaben … Haben Sie einen Hausarzt?«
»Eh …«
»Wenn er sich damit nicht auskennt, zeigen Sie ihm diesen Code hier: 401 A02.1. Den Rest besprechen Sie dann mit Ihrer CKV, nicht wahr?«
»Ah … Natürlich … ähm … Was ist das?«
Wieder auf dem Bürgersteig, geriet Paulettes Bereitwilligkeit ins Wanken.
»Wenn du mit mir zum Arzt gehst, wird er mich wieder ins Altenheim stecken …«
»He! Paulette, ganz ruhig … Wir gehen nicht zum Arzt, ich mag Ärzte genausowenig wie Sie, wir kriegen das schon hin … Machen Sie sich keine Sorgen …«
»Sie werden mich finden … Sie werden mich finden …« weinte sie.
Sie hatte keinen Appetit und saß den ganzen Nachmittag niedergeschlagen auf ihrem Bett.
»Was hat sie denn?« fragte Franck beunruhigt.
»Nichts. Wir waren in der Apotheke, um uns nach einem Rolli zu erkundigen, und als die gute Frau meinte, daß wir zum Arzt müßten, hat sie das traumatisiert …«
»Was für einem Rolli?«
»Na ja, einem Rollstuhl halt!«
»Wozu denn das?«
»Na ja, um damit durch die Gegend zu fahren, du Idiot! Um was zu sehen!«
»Was machst du aber auch, verdammt noch mal? Es geht ihr hier doch gut! Warum willst du sie denn durchschütteln wie eine Flasche Orangina?«
»Oh … Du gehst mir langsam tierisch auf den Geist, weißt du das? Dann kümmer du dich doch um sie! Dann wisch du ihr doch von Zeit zu Zeit den Hintern ab, das würde dir den Kopf zurechtrücken. Ich hab kein Problem damit, sie zu betreuen, deine Oma ist absolut goldig, aber ich muß mich bewegen, ich muß hier raus, auf andere Gedanken kommen, verdammt! Für dich ist es ideal, so wie’s im Moment läuft, das ist klar. Oder geht dir irgendwas gegen den Strich, nein? Philou, Paulette und dir, euch reicht der Auslauf zwischen Wohnung, Ham-ham, Job und Heiabett … Aber mir nicht! Allmählich ersticke ich hier! Außerdem gehe ich furchtbar gern spazieren, und wir haben jetzt die schönsten Tage … Deshalb sage ich es noch mal: Ich will gern die Krankenpflegerin spielen, aber mit der Option auf Touristenattraktionen, sonst könnt ihr sehen, wo ihr …«
»Was?«
»Nichts!«
»Jetzt reg dich nicht so auf …«
»Anders geht es ja nicht! Du bist ein solcher Egoist, wenn ich da den Mund halte, rührst du nie einen Finger, um mir zu helfen!«
Er ging und schlug die Tür hinter sich zu, und sie verzog sich in ihr Zimmer.
Als sie wieder herauskam, waren beide in der Diele. Paulette war im siebten Himmel: Ihr Kleiner kümmerte sich um sie.
»Na, du Schwergewicht, hinein mit dir. Das hier ist wie ein Fahrrad, man muß die richtige Einstellung finden, für lange Strecken …«
Er kniete davor und betätigte alle Hebel:
»Sind deine Füße richtig?«
»Ja.«
»Und die Arme?«
»Etwas zu hoch …«
»Okay, Camille, komm her. Da du das Ding schieben wirst, müssen wir die Griffe auf dich einstellen …«
»Perfekt. Also, ich muß los … Kommt ihr noch ein Stück mit, dann können wir ihn gleich ausprobieren …«
»Geht er in den Fahrstuhl?«
»Nein. Man muß ihn zusammenklappen«, sagte er gereizt … »Aber um so besser, sie ist ja schließlich nicht vollinvalide, soweit ich weiß.«
»Brumm, brrrrummm … Fangio, schnall dich an, ich bin spät dran.«
Im Eiltempo durchquerten sie den Park. An der Ampel waren Paulettes Haare völlig zerzaust und die Wangen rosig.
»Okay, Mädels, ich laß euch allein. Schickt mir eine Karte, wenn ihr in Katmandu angekommen seid …«
Er war schon ein paar Meter gegangen, als er sich noch einmal umdrehte:
»He! Camille? … Denkst du noch an heute abend?«
»Was denn?«
»Die Crêpes …«
»Oh, Scheiße!«
Sie schlug sich mit der Hand auf den Mund.
»Das hab ich vergessen … Ich bin nicht da.«
Er schrumpfte um ein paar Zentimeter.
»Und es ist auch noch was Wichtiges … Das kann ich nicht absagen … Geschäftlich …«
»Und sie?«
»Ich habe Philou gefragt, ob er mich ablöst …«
»Na gut … Pech gehabt, hm? Dann essen wir sie eben ohne dich …«
Tapfer trug er seine Verzweiflung und entfernte sich gequälten Schrittes. Das Etikett seines neuen Slips kratzte.
14
Mathilde Daens-Kessler war die hübscheste Frau, der Camille je begegnet war. Sehr groß, viel größer als ihr Mann, sehr schmal, sehr fröhlich, sehr kultiviert. Sie wandelte auf unserem kleinen Planeten, ohne darüber nachzudenken, interessierte sich für alles, wunderte sich über die kleinsten Dinge, amüsierte sich, empörte sich halbherzig, legte bisweilen ihre Hand auf die ihres Gegenübers, sprach stets mit leiser Stimme, beherrschte vier oder fünf Sprachen und täuschte alle mit einem entwaffnenden Lächeln.
So hübsch, daß ihr nie die Idee gekommen war, sie zu malen.
Es war zu riskant. Sie war zu lebendig.
Eine kleine Skizze, einmal. Im Profil. Die Partie unter dem Haarknoten, ihre Ohrringe. Pierre hatte sie ihr weggenommen, aber es war nicht sie gewesen. Es fehlten die tiefe Stimme, ihr Glanz und ihre Grübchen, wenn sie lächelte.
Sie besaß das Wohlwollen, den Hochmut und die Ungezwungenheit derer, die zwischen edlen Laken zur Welt gekommen waren. Ihr Vater war ein großer Sammler, sie war immer von schönen Dingen umgeben gewesen, und es hatte ihr im Leben nie an etwas gefehlt, weder an Dingen, noch an Freunden oder Feinden.
Sie war reich, Pierre unternehmungslustig.
Sie schwieg, wenn er sprach, und machte seine Fehler wett, sobald er sich abwandte. Er tat junge Schützlinge auf. Er irrte sich nie, hatte beispielsweise Boulys und Barcarès bekanntgemacht, und sie bemühte sich darum, die Betreffenden zu halten.
Sie konnte alle halten.
Ihre erste Begegnung, wie sich Camille bestens erinnerte, hatte in der Hochschule der Schönen Künste stattgefunden, anläßlich einer
Ausstellung der Abschlußarbeiten. Eine Art Aura ging ihnen voraus. Der furiose Händler und die Tochter von Witold Daens. Man hoffte auf ihr Kommen, fürchtete sie, harrte ihrer Reaktionen, und seien sie noch so unscheinbar. Sie hatte sich hundsmiserabel gefühlt, als sie von ihnen begrüßt wurden, sie und die ganze Truppe armer Schlucker. Sie hatte den Kopf gesenkt, als sie ihm die Hand reichte, war unbeholfen ein paar Komplimenten ausgewichen und hatte nach einem Mauseloch Ausschau gehalten, in das sie sich endlich verkriechen konnte.
Es war im Juni gewesen, vor fast zehn Jahren. Die Schwalben hatten im Universitätshof ein Konzert gegeben, und sie tranken schlechten Punsch, während sie ehrfürchtig Kesslers Worten lauschten. Camille hörte nichts. Sie betrachtete seine Frau. An jenem Tag trug sie eine blaue Bluse und einen breiten silbernen Gürtel, an dem winzige Schellen klimperten, wenn sie sich bewegte.
Es war Liebe auf den ersten Blick.
Anschließend waren sie von ihnen in ein Restaurant der Rue Dauphine eingeladen worden, und am Ende eines feuchtfröhlichen Diners hatte ihr kleiner Freund Camille aufgefordert, ihre Zeichenmappe zu öffnen. Sie hatte sich geweigert.
Ein paar Monate später war sie zu ihnen gekommen. Allein.
Pierre und Mathilde besaßen Bilder von Tiepolo, Degas und Kandinsky, hatten jedoch keine Kinder. Camille wagte nicht, sie darauf anzusprechen, und ging ihnen mit Haut und Haar ins Netz. In der Folge erwies sie sich als so enttäuschend, daß die Maschen weiter wurden.
»Das ist purer Blödsinn! Du machst nichts als Blödsinn!« herrschte Pierre sie an.
»Warum liebst du dich nicht? Warum?« fügte Mathilde sanfter hinzu.
Sie ging nicht mehr zu ihren Vernissagen.
Wenn die beiden allein waren, zeigte er sich darüber sehr betrübt:
»Warum?«
»Wir haben sie nicht genug geliebt«, antwortete seine Frau.
»Wir?«
»Alle.«
Er legte den Kopf auf ihre Schulter und stöhnte:
»Ach … Mathilde. Ma Belle … Warum hast du sie ziehen lassen?«
»Sie wird zurückkommen …«
»Nein. Sie wird alles kaputtmachen …«
»Sie wird zurückkommen.«
Sie war zurückgekommen.
»Ist Pierre nicht da?«
»Nein, er ist mit seinen Engländern essen, ich habe ihm nicht gesagt, daß du kommst, ich wollte ein bißchen Zeit mit dir haben.«
Dann, mit Blick auf ihre Mappe:
»Aber … Du … du hast was mitgebracht?«
»Ach, das ist nichts Besonderes. Etwas Kleines, was ich ihm neulich versprochen habe.«
»Darf ich mal sehen?«
Camille antwortete nicht.
»Gut, dann wart ich auf ihn.«
»Ist das von dir?«
»Mmmm.«
»Mein Gott. Wenn er erfährt, daß du nicht mit leeren Händen gekommen bist, wird er untröstlich sein … Ich rufe ihn an …«
»Nein, nein!« antwortete Camille, »laß nur! Es ist nichts Besonders, wie gesagt … Das bleibt unter uns. Eine Art Mietzahlung.«
»In Ordnung. Wollen wir essen?«
Bei ihnen war alles schön, der Blick, die Gegenstände, die Teppiche, die Gemälde, das Geschirr, ihr Toaster, alles. Sogar ihr Klo war schön. Auf einem Gipsabdruck konnte man den Vierzeiler lesen, den Mallarmé in sein eigenes Klo geschrieben hatte:
Du bist hier, um dich zu entleeren,
Und magst in diesem finst’ren Gelände
Singen, rauchen, brauchst dich um nichts zu scheren
Nur eins sollst du nicht: mit der Hand an die Wände.
Beim ersten Mal hatte sie das echt umgehauen:
»Sie … Sie haben Mallarmés Klowände gekauft?!«
»Nicht doch«, lachte Pierre, »ich kenne nur den Menschen, der den Abguß dafür gemacht hat. Kennst du sein Haus? In Vulaines?«
»Nein.«
»Da müssen wir mal zusammen hin. Du wirst diesen Ort lieben. Liiiieeeeben.«
Und alles andere war entsprechend. Sogar ihr Klopapier war weicher als anderswo.
Mathilde freute sich:
»Was siehst du gut aus! Was hast du für eine schöne Gesichtsfarbe! Wie gut dir die kurzen Haare stehen! Du hast etwas zugenommen, oder? Wie glücklich ich bin, dich so zu sehen. Wirklich glücklich. Du hast mir sehr gefehlt, Camille. Wenn du wüßtest, wie sehr mir diese Genies manchmal auf die Nerven gehen. Je weniger Talent sie haben, um so mehr Wirbel machen sie. Pierre ist das gleich, das ist sein Terrain, aber ich, Camille, ich … Wie mich das anödet. Komm, setz dich zu mir, erzähl mir was.«
»Ich kann nicht erzählen. Ich zeige dir lieber meine Hefte.«
Mathilde blätterte, und sie kommentierte die Seiten.
Und während sie ihre kleine Welt auf diese Weise präsentierte, merkte sie erst, wie sehr sie an den anderen hing.
Philibert, Franck und Paulette waren mittlerweile die wichtigsten Menschen in ihrem Leben, und sie war gerade im Begriff, sich dessen bewußt zu werden, zwischen zwei Perserkissen aus dem 18. Jahrhundert. Sie war ganz aufgewühlt.
Zwischen dem ersten Heft und der letzten Zeichnung, die sie vorhin angefertigt hatte – Paulette freudestrahlend vor dem Eiffelturm –, waren nur wenige Monate vergangen, und doch war sie nicht mehr dieselbe. Es war nicht mehr dieselbe Person, die den Stift führte. Sie hatte sich gehäutet, sie hatte die Granitblöcke, die sie seit Jahren am Vorankommen hinderten, verrückt und gesprengt.
Heute abend warteten Menschen auf ihre Rückkehr. Menschen, die sich nicht darum scherten, was sie wert war. Die sie aus anderen Gründen mochten. Um ihretwillen vielleicht.
Um meinetwillen?
Um deinetwillen.
»Und?« fragte Mathilde ungeduldig, »du sagst gar nichts mehr. Wer ist das hier?«
»Johanna, Paulettes Friseuse.«
»Und das?«
»Johannas Stiefeletten. Rock ’n’ Roll, oder? Wie kann eine Frau, die den ganzen Tag im Stehen arbeitet, so was tragen? Selbstverleugnung im Dienste der Eleganz, vermute ich.«
Mathilde lachte. Die Schühchen waren wirklich greulich.
»Und der hier, der kommt häufig vor, oder?«
»Das ist Franck, der Koch, von dem ich dir vorhin erzählt habe.«
»Der sieht gut aus.«
»Findest du?«
»Ja. Man könnte meinen, der junge Farnese, wie ihn Tizian gemalt hat, nur zehn Jahre älter.«
Camille verdrehte die Augen:
»Blödsinn.«
»Aber sicher! Ich schwör’s dir!«
Sie war aufgestanden und kam mit einem Buch zurück:
»Hier. Sieh doch. Der gleiche düstere Blick, die gleichen bebenden Nasenflügel, das gleiche vorspringende Kinn, die gleichen leicht abstehenden Ohren. Das gleiche Feuer, das in ihm lodert.«
»Blödsinn«, wiederholte sie und schielte auf das Porträt, »meiner hat Pickel.«
»Ach … Du Spielverderberin!«
»Ist das alles?« fragte Mathilde betrübt.
»Eh, ja.«
»Das ist gut. Das ist sehr gut. Das ist … das ist herrlich.«
»Hör auf.«
»Widersprich mir nicht, junge Frau, ich kann zwar nicht malen, aber ich kann sehen. In einem Alter, in dem andere Kinder ins Kasperletheater gehen, hat mich mein Vater überall mit hingenommen, mich auf die Schultern gesetzt, damit ich auf Augenhöhe bin, also widersprich mir nicht. Läßt du sie mir da?«
»…«
»Für Pierre.«
»Okay … Aber bitte paß darauf auf! Diese kleinen Zeichnungen sind meine Fieberkurven.«
»Das habe ich schon verstanden.«
»Willst du nicht auf ihn warten?«
»Nein, ich muß los.«
»Er wird enttäuscht sein.«
»Es wäre nicht das erste Mal«, antwortete Camille schicksalsergeben.
»Du hast mir gar nichts von deiner Mutter erzählt.«
»Stimmt«, wunderte sie sich, »ein gutes Zeichen, oder?«
Mathilde begleitete sie zur Tür und gab ihr Küßchen auf die Wangen:
»Das Beste. Und vergiß nicht, mal wieder vorbeizuschauen. Mit eurem Rollstuhl Cabriolet ist es lediglich eine Frage von wenigen Metrostationen …«
»Versprochen.«
»Und weiter so. Locker bleiben. Tu dir was Gutes. Pierre würde dir natürlich das Gegenteil sagen, aber auf ihn darfst du auf keinen Fall hören. Hör nicht mehr auf sie, weder auf ihn, noch auf irgend jemand anders. Ach, übrigens?«
»Ja?«
»Brauchst du Geld?«
Camille hätte nein sagen sollen. Seit siebenundzwanzig Jahren sagte sie nein. Nein, kein Problem. Nein, danke. Nein, ich brauche nichts. Nein, ich will euch nichts schuldig sein. Nein, nein, laßt mich in Ruhe.
»Ja.«
Ja. Ja, vielleicht glaube ich daran. Ja, ich werde nicht mehr den Lakaien machen, weder für die Ritals noch für die Bredart noch für irgendeinen anderen dieser Idioten. Ja, ich würde gerne zum ersten Mal in meinem Leben in Ruhe arbeiten. Ja, ich habe keine Lust, mich jedesmal zu verkrampfen, wenn Franck mir seine drei Scheine hinhält. Ja, ich habe mich verändert. Ja, ich brauche euch. Ja.
»Prima. Und kauf dir was Schönes davon. Ehrlich gesagt … Diese Jeansjacke hattest du vor zehn Jahren auch schon.«
Das stimmte.
15
Sie ging zu Fuß zurück und besah sich die Schaufensterauslagen der Antiquitätenhändler. Sie war gerade bei den Schönen Künsten (das Schicksal, so ein Schelm …), als ihr Handy klingelte. Sie klappte es wieder zu, als sie sah, daß es Pierre war.
Sie lief schneller. Ihr Herz verhedderte sich.
Zweites Klingeln. Mathilde diesmal. Sie ging auch jetzt nicht dran.
Sie machte kehrt und überquerte die Seine. Diese Kleine hatte Sinn für Romantik, und ob man nun vor Freude in die Luft oder ins Wasser sprang, der Pont des Arts in Paris war dafür immer noch am besten geeignet. Sie lehnte sich an die Brüstung und wählte die drei Ziffern ihrer Mailbox.
Sie haben zwei Nachrichten in Ihrer Mailbox, heute, dreiundzwanzig Uh … Es war noch Zeit genug, es aus Versehen fallen zu lassen. Plumps! Oh … Zu dumm.
»Camille, ruf mich sofort zurück, oder ich schleife dich an den Haaren herbei!« brüllte er. »Sofort! Hörst du?«
Heute, dreiundzwanzig Uhr achtunddreißig: »Hier ist Mathilde. Ruf ihn nicht zurück. Komm nicht. Ich will nicht, daß du das siehst. Dein Händler heult wie ein Schloßhund. Kein schöner Anblick, kann ich dir sagen. Doch, er ist schön. Er ist sogar sehr schön. Danke, Camille, danke. Hörst du, was er sagt? Moment, ich geb ihm den Hörer, sonst reißt er mir das Ohr ab. Ich stell dich im September aus, Fauque, und sag nicht nein, die Einladungen sind schon rausgeg…« Die Nachricht brach ab.
Sie stellte ihr Handy aus, drehte sich eine Zigarette und rauchte sie zwischen Louvre, Académie Française, Notre-Dame und der Place de la Concorde.
Eine passende Kulisse für den Vorhang.
Anschließend zurrte sie den Schultergurt ihres Quersacks fest und nahm die Beine in die Hand, um das Dessert nicht zu verpassen.
16
In der Küche roch es ein wenig nach Bratfett, aber das Geschirr war schon wieder verstaut.
Kein Laut, alle Lichter gelöscht, nicht mal ein Lichtschein unter den Zimmertüren. Pff … Wo sie einmal bereit gewesen wäre, sich den Bauch vollzuschlagen.
Sie klopfte bei Franck.
Er hörte Musik.
Sie baute sich am Fußende auf und stemmte die Fäuste in die Seiten:
»Und?!« fragte sie entrüstet.
»Wir haben dir ein paar aufgehoben. Ich flambier sie dir morgen.«
»Und?!« wiederholte sie. »Willst du mich nicht vernaschen?«
»Ah! Ah! Sehr witzig.«
Sie fing an, sich auszuziehen.
»Also, mein Lieber. So leicht kommst du mir nicht davon! Versprochen ist versprochen, Orgasmus gefälligst!«
Er hatte sich aufgesetzt, um die Lampe anzumachen, während sie ihre Latschen in die Ecke pfefferte.
»Was machst du denn da? Was soll das?«
»Eh … Ich ziehe mich aus!«
»Oh nein.«
»Was?«
»Nicht so. Moment. Von diesem Augenblick träume ich seit Stunden.«
»Mach das Licht aus.«
»Warum?«
»Ich hab Angst, daß du keine Lust mehr auf mich hast, wenn du mich siehst.«
»Verflucht, Camille! Hör auf! Hör auf!« brüllte er.
Schmollmund.
»Willst du nicht mehr?«
»…«
»Mach das Licht aus.«
»Nein!«
»Doch!«
»Ich will nicht, daß das so zwischen uns abläuft.«
»Wie soll es dann ablaufen? Willst du mit mir im Bois de Boulogne Boot fahren?«
»Pardon?«
»Boot fahren und Gedichte aufsagen, während ich die Hand im Wasser baumeln lasse.«
»Setz dich hier neben mich.«
»Mach das Licht aus.«
»Okay.«
»Mach die Musik aus.«
»Ist das alles?«
»Ja.«
»Bist du’s?« fragte er verschüchtert.
»Ja.«
»Liegst du gut?«
»Nein.«
»Hier, nimm ein Kopfkissen. Wie war dein Termin?«
»Sehr gut.«
»Willst du mir etwas erzählen?«
»Was denn?«
»Alles. Heute abend will ich alles wissen. Alles. Alles. Alles.«
»Du weißt ja, wenn ich erst mal anfange. Dann fühlst auch du dich verpflichtet, mich hinterher in den Arm zu nehmen.«
»Ach, du Scheiße. Bist du vergewaltigt worden?«
»Das nicht.«
»Tja … Dem könnte ich abhelfen, wenn du willst.«
»Oh danke. Sehr freundlich. Hm … Wo soll ich anfangen?«
Franck imitierte den Moderator einer Kindersendung:
»Wo kommst du her, mein Kind?«
»Aus Meudon.«
»Aus Meudon?« rief er aus, »das ist aber sehr schön! Und wo ist deine Mama?«
»Sie frißt Medikamente.«
»So? Und dein Papa, wo ist dein Papa?«
»Tot.«
»…«
»Tja! Ich hatte dich gewarnt, mein Junge! Hast du wenigstens Pariser hier?«
»Bring mich nicht so durcheinander, Camille, ich bin ein bißchen schwer von Begriff, das weißt du doch. Dein Vater ist gestorben?«
»Ja.«
»An was?«
»Er ist in den Abgrund gestürzt.«
»…«
»Gut, der Reihe nach. Rutsch ran, ich will nicht, daß die anderen was hören.«
Er zog die Decke über ihre Köpfe:
»Schieß los. Uns kann keiner mehr sehen.«
17
Camille schlug die Beine übereinander, legte die Hände auf den Bauch und unternahm eine lange Reise.
»Ich war ein kleines Mädchen ohne Geschichte und sehr brav …« begann sie mit Kinderstimme, »ich aß nicht viel, aber ich war gut in der Schule und malte die ganze Zeit. Ich habe keine Geschwister. Mein Papa hieß Jean-Louis und meine Mama Catherine. Ich glaube, als sie sich kennenlernten, haben sie sich geliebt. Ich weiß es nicht, ich habe mich nie getraut, sie zu fragen. Aber als ich Pferde malte und das schöne Gesicht von Johnny Depp in 21 Jump Street, liebten sie sich schon nicht mehr. Da bin ich mir ziemlich sicher, denn mein Papa wohnte schon nicht mehr bei uns. Er kam nur am Wochenende vorbei, um mich zu sehen. Es war normal, daß er wieder ging, ich an seiner Stelle hätte es genauso gemacht. Ich wäre sonntagabends auch gern mit ihm mitgegangen, aber das hätte ich nie gewagt, weil sich meine Mama dann wieder umgebracht hätte. Meine Mama hat sich ganz oft umgebracht, als ich klein war. Zum Glück oft dann, wenn ich nicht da war, und danach … Als ich größer wurde, hatte sie weniger Hemmungen, woraufhin eh … Einmal war ich bei einer Freundin zum Geburtstag. Als mich meine Mama am Abend nicht abholte, hat mich eine andere Mama bei mir vor der Haustür abgesetzt, und als ich ins Wohnzimmer kam, habe ich gesehen, wie sie tot auf dem Teppich lag. Die Feuerwehrleute sind gekommen, und ich habe zehn Tage bei der Nachbarin gewohnt. Danach hat ihr mein Papa gesagt, wenn sie sich noch einmal umbringt, würde er ihr das Sorgerecht entziehen, daraufhin hat sie aufgehört. Sie hat nur noch Medikamente gefuttert. Mein Papa hat mir erzählt, daß er zum Arbeiten weg muß, aber meine Mama hat mir verboten, ihm zu glauben. Sie hat mir jeden Tag erzählt, daß er ein Lügner sei, ein Dreckskerl, daß er eine andere Frau und ein anderes kleines Mädchen hätte, das er jeden Abend lieb streicheln würde.«
Sie nahm wieder ihre normale Stimme an:
»Es ist das erste Mal, daß ich darüber spreche. Du siehst, deine hat dich fertiggemacht, bevor sie dich in den Zug zurück setzte, aber meine hat mir jeden Tag in den Ohren gelegen. Jeden Tag. Manchmal war sie auch lieb. Sie hat mir Filzstifte gekauft und mir immer wieder gesagt, ich sei ihr ganzes Glück auf Erden.
Wenn er kam, verzog sich mein Vater zu seinem Jaguar in die Garage und hörte Opern. Es war ein alter Jaguar, der keine Räder mehr hatte, aber das war nicht schlimm, wir fuhren trotzdem spazieren. Er sagte: ›Darf ich Sie an die Riviera entführen, Mademoiselle?‹ und ich setzte mich neben ihn. Das Auto habe ich geliebt.«
»Was war das für ein Modell?«
»Ein MK irgendwas …«
»MKI oder MKII?«
»Scheiße, das ist typisch Mann. Ich versuche dich zu Tränen zu rühren, und das einzige, was dich interessiert, ist die Automarke!«
»Pardon.«
»Schon gut.«
»Erzähl weiter.«
»Pff …«
»›Na, Mademoiselle? Darf ich sie an die Riviera entführen?‹«
»›Ja‹, lachte Camille, ›gerne‹. ›Haben Sie Ihren Badeanzug eingepackt?‹ fügte er hinzu, ›hervorragend. Und auch ein Abendkleid! Wir gehen bestimmt ins Casino. Vergessen Sie Ihren Silberfuchs nicht, in Monte Carlo sind die Nächte kalt.‹ Es roch so gut im Wagen. Nach altem Leder. Alles war schön, das weiß ich noch. Der kristallene Aschenbecher, der Spiegel in der Beifahrerblende, die winzigen Hebel zum Herunterkurbeln der Scheiben, das Handschuhfach, das Holz. Wie ein fliegender Teppich. ›Mit etwas Glück kommen wir vor Einbruch der Dunkelheit noch an‹, versprach er mir. Ja, so ein Mann war mein Papa, ein großer Träumer, der stundenlang in einem aufgebockten Auto sitzen, den Schalthebel betätigen und mich in einer Vorstadtgarage bis ans Ende der Welt mitnehmen konnte. Er war auch ganz verrückt nach Opern, unterwegs hörten wir Don Carlos, La Traviata oder Die Hochzeit des Figaro. Er erzählte mir Geschichten: über den Kummer der Madame Butterfly, die unmögliche Liebe zwischen Pelleas und Melisande, wenn er ihr gesteht, ich muß Ihnen etwas sagen, und es dann nicht über sich bringt, die Geschichten mit der Gräfin und ihrem Cherub, der sich die ganze Zeit versteckt, oder Alcina, die hübsche Zauberin, die ihre Freier in wilde Tiere verwandelt. Ich durfte immer reden, außer wenn er die Hand hob, und bei Alcina nahm er sie sehr oft hoch. Tornami a vagheggiar, ich kann dieses Lied nicht mehr hören. Es ist zu fröhlich. Aber meistens war ich still. Es ging mir gut. Ich dachte an das andere kleine Mädchen. Sie hatte das alles nicht. Das war verwirrend für mich. Heute sehe ich natürlich klarer: Ein Mann wie er konnte mit einer Frau wie meiner Mutter nicht leben. Einer Frau, die die Musik einfach abstellte, wenn es Zeit zum Essen war, und all unsere Träume wie Seifenblasen zum Platzen brachte. Ich habe sie nie glücklich gesehen, ich habe sie nie lächeln sehen, ich … Mein Vater hingegen war die Liebenswürdigkeit und Güte in Person. Ein wenig wie Philibert. Zu lieb, um das hier auf sich zu nehmen. Die Vorstellung, in den Augen seiner kleinen Prinzessin als Dreckskerl dazustehen. Also kam er eines Tages zu uns zurück. Er schlief in seinem Arbeitszimmer und fuhr am Wochenende weg. Keine Ausflüge mehr in dem alten grauen Jaguar nach Salzburg oder Rom, keine Casinos mehr und keine Picknicks am Strand. Und dann, eines Morgens, war er wohl müde geworden, denke ich mir. Sehr, sehr müde, und fiel von einem hohen Gebäude …«
»Fiel oder sprang?«
»Er war ein eleganter Mann, er ist gefallen. Er war Versicherungsangestellter und wegen irgendwelcher Entlüftungsschächte oder weiß der Kuckuck was auf dem Dach eines Turms unterwegs, hat seine Akte aufgeschlagen und nicht darauf geachtet, wohin er die Füße setzt …«
»Verrückt, diese Geschichte. Wie denkst du darüber?«
»Ich denke gar nichts. Dann kam die Beerdigung, und meine Mutter hat sich ständig umgedreht, um festzustellen, ob die andere Frau hinten in der Kapelle sitzt … Dann hat sie den Jaguar verkauft, und ich habe aufgehört zu reden.«
»Für wie lange?«
»Monate.«
»Und dann? Kann ich die Decke etwas runterziehen, ich ersticke gleich.«
»Ich bin auch erstickt. Aus mir wurde ein undankbares, einsames junges Mädchen, ich hatte die Nummer des Krankenhauses im Telefon gespeichert, aber ich habe sie nicht mehr gebraucht. Sie hatte sich beruhigt. Sie war jetzt nicht mehr selbstmordgefährdet, sondern depressiv. Ein Fortschritt. So war es ruhiger. Ein Toter reichte ihr wohl. Dann hatte ich nur noch eins im Kopf: abhauen. Mit siebzehn bin ich zum ersten Mal ausgebüxt und bei einer Freundin untergeschlüpft. Eines Abends, rums, standen meine Mutter und die Bullen vor der Tür. Dabei wußte sie genau, wo ich war, dieses Weib. Das war kraß, wie man heute sagen würde. Wir saßen gerade beim Abendessen, meine Freundin, ihre Eltern und ich, und unterhielten uns, soweit ich weiß, über den Algerienkrieg. Dann klopf, klopf die Bullen. Mir war das superpeinlich gegenüber diesen Leuten, aber nun gut, ich wollte keine Scherereien machen, also bin ich mitgegangen … Am 17. Februar bin ich achtzehn geworden, um eine Minute nach Mitternacht habe ich mich verdrückt und die Tür ganz leise hinter mir zugezogen. Ich habe mein Abi gemacht und dann an der Kunsthochschule angefangen. Als vierte von siebzig Zugelassenen. Nach den Opern meiner Kindheit hatte ich eine phantastische Mappe zusammengestellt. Ich hatte geschuftet wie ein Tier und bekam die Glückwünsche der Jury. Damals hatte ich keinen Kontakt mehr zu meiner Mutter und habe mich irrsinnig abgerackert, weil das Leben in Paris zu teuer war. Ich wohnte mal hier, mal dort und habe viele Stunden geschwänzt. Ich habe die Theorie geschwänzt und bin ins Atelier gegangen, und dann hab ich Scheiße gebaut … Auf der einen Seite habe ich mich gelangweilt, habe das Spiel nicht mitgespielt: Ich habe mich nicht ernst genommen und wurde folglich auch nicht ernst genommen. Ich war keine echte Künstlerin, ich war eine gute Handwerkerin, der man eher die Place du Tertre auf dem Montmartre empfiehlt, um Monet und die kleinen Tänzerinnen hinzuschmieren … Und außerdem … eh … hab ich nichts begriffen. Ich habe lieber gemalt, als mir das Geblubber der Profs anzuhören, ich habe Porträts von ihnen gemacht, und ihre Vorstellung von bildender Kunst, von Happenings und Installationen hat mich angeödet. Ich habe schnell gemerkt, daß ich mich im Jahrhundert geirrt hatte. Ich hätte gern im 16. oder 17. Jahrhundert gelebt und wäre im Atelier eines großen Meisters in die Lehre gegangen … Hätte seine Grundierungen vorbereitet, seine Pinsel gereinigt und für ihn die Farben angerieben … Vielleicht war ich nicht reif genug? Oder hatte kein Selbstbewußtsein? Oder war schlicht nicht besessen genug? Ich weiß es nicht … Auf der anderen Seite habe ich eine Bekanntschaft gemacht, die mir nicht gutgetan hat. Eine simple Geschichte: Junge Schnepfe mit ihren Pastelldöschen und schön gefalteten Läppchen verliebt sich in das verkannte Genie. Den Verstoßenen, den Prinz mit dem Kopf in den Wolken, den Trauernden, den Undurchsichtigen, den Untröstlichen … Das volle Klischee: Langhaarig, gequält, genial, leidend, lechzend … Argentinischer Vater, ungarische Mutter, explosive Mischung, hochgebildet, wohnte in einem besetzten Haus und hatte nur auf sie gewartet: ein verrücktes Huhn, das ihn bekochte, während er unter schrecklichen Qualen schöpferisch tätig war … Das habe ich richtig gut hingekriegt. Ich bin zum Markt von Saint-Pierre gegangen, habe meterlange Stoffbahnen an die Wände geheftet, um unser ›Kämmerlein‹ schön ›schmuck‹ zu gestalten, und habe mir Arbeit gesucht, um den Herd am Brennen zu halten … Wobei, den Herd … eh … den kleinen Gaskocher eher … Ich habe das Studium sausen lassen und mich im Schneidersitz hingesetzt, um darüber nachzudenken, was ich mal werden könnte … Und das Schlimmste, ich war stolz darauf! Ich habe ihm beim Malen zugeschaut und mich wichtig gefühlt … Ich war die Schwester, die Muse, die Grande Dame hinter dem Grand Homme, die die Weinkanister wieder aufstellte, die Jünger ernährte und die Aschenbecher leerte …«
Sie lachte.
»Ich war stolz und bin Museumswärterin geworden, superschlau, oder? Gut, ich erspar dir die Kollegen, ich habe allen Größen im Staatsdienst die Hand gereicht, aber … Es war mir eigentlich schnurzegal … Es ging mir gut. Endlich war ich im Atelier meines großen Meisters … Die Leinwände waren schon lange getrocknet, aber ich habe dort bestimmt mehr gelernt als in allen Schulen der Welt … Und da ich damals nicht viel schlief, konnte ich ruhig vor mich hindösen … Ich wärmte mich auf … Das Problem war, daß ich nicht malen durfte … Nicht mal in ein klitzekleines Heftchen, nicht mal, wenn kein Mensch da war, und Gott weiß, wie wenig Leute an manchen Tagen vorbeikamen, es war dennoch nichts anderes erlaubt, als über das Schicksal nachzugrübeln, zusammenzufahren, wenn ich die quietschenden Schuhsohlen eines verirrten Besuchers hörte, meine Sachen in Windeseile wegzupacken, wenn das Plingpling seines Schlüsselbunds zu hören war … Am Ende war es Séraphin Ticos liebster Zeitvertreib geworden – Séraphin Tico, ich liebe diesen Namen –, sich leise anzuschleichen und mich in flagranti zu erwischen. Ah! Was hat er sich gefreut, der Idiot, wenn er mich zwang, meinen Stift wegzupacken! Ich sah, wie er beim Weggehen die Beine breit machte, damit sich seine Eier vor Wonne aufblasen konnten … Aber wenn ich zusammenzuckte, habe ich mich bewegt, und das hat mich echt genervt. Wie viele Skizzen seinetwegen in die Hose gingen … Nein! So ging es nicht weiter! Deshalb hab ich das Spielchen mitgespielt … Die Lehrjahre trugen allmählich Früchte: Ich bestach ihn.«
»Pardon?«
»Ich bezahlte ihn. Ich fragte ihn, wieviel er haben will, um mich in Ruhe arbeiten zu lassen … Dreißig Franc am Tag? Schön … Der Preis für eine Stunde Pennen im Warmen? Gut … Ich habe sie ihm gegeben …«
»Du meine Fresse …«
»Ja, der große Séraphin Tico«, fügte sie verträumt hinzu, »jetzt, wo wir den Rolli haben, werde ich demnächst mal mit Paulette bei ihm vorbeischauen.«
»Warum?«
»Weil ich ihn gerne mochte. Er war ein ehrlicher Gauner. Nicht wie der andere Blödmann, der mich nach einem Arbeitstag mit Stinklaune empfing, weil ich vergessen hatte, Kippen zu kaufen. Und ich, blöd wie ich bin, bin wieder losgezogen.«
»Warum bist du bei ihm geblieben?«
»Weil ich ihn geliebt habe. Ich habe auch seine Arbeiten bewundert. Er war frei, ohne Komplexe, selbstsicher, anspruchsvoll. Das genaue Gegenteil von mir. Er wäre lieber mit offenem Mund verreckt, als den geringsten Kompromiß einzugehen. Ich war gerade mal zwanzig, ich habe ihn ausgehalten und fand ihn bewundernswert.«
»Ganz schön dämlich.«
»Ja … Nein … Nach der Kindheit, die ich hinter mir hatte, war es das Beste, was mir passieren konnte. Es war immer jemand da, es wurde nur über Kunst gesprochen, über Malerei. Wir waren albern, klar, aber auch redlich. Wir lebten zu sechst von zweimal Arbeitslosenhilfe, wir froren uns einen ab und standen an öffentlichen Bädern Schlange, aber wir hatten das Gefühl, besser zu leben als die anderen. Und so grotesk es einem heute auch vorkommen mag, ich glaube, wir hatten recht. Wir hatten eine gemeinsame Leidenschaft. Was für ein Luxus. Ich war dämlich und glücklich. Wenn ich einen Saal über hatte, tauschte ich, und wenn ich nicht gerade die Zigaretten vergaß, wurde gefeiert! Wir haben auch viel getrunken. Ich habe mir ein paar schlechte Angewohnheiten zugelegt. Und dann habe ich die Kesslers kennengelernt, von denen ich dir neulich erzählt habe.«
»Er war bestimmt eine heiße Nummer«, sagte er und zog eine Grimasse.
Sie gurrte:
»Na klar … Die beste der Welt. Ah … Schon beim Gedanken daran kriege ich überall Gänsehaut, hier …«
»Ja, ja, alles klar. Hab schon kapiert.«
»Nein«, seufzte sie, »so toll war es nicht. Nachdem sich die erste post-jüngferliche Erregung gelegt hatte, habe ich … ich … na ja … Er war ein ziemlicher Egoist …«
»Aaah.«
»Jaa, eh … Da kannst du ja eigentlich auch schon ganz gut mithalten.«
»Ja, aber ich rauche nicht!«
Sie lächelten sich im Dunkeln zu.
»Danach ging es bergab. Mein Schatz betrog mich. Während ich mir Séraphin Ticos schwachsinnigen Humor reinziehen mußte, hat er sich die Erstsemester reingezogen, und als wir uns wieder vertrugen, hat er mir gestanden, daß er Drogen nimmt, ja, nur so halt. Weil’s chic ist. Und darüber will ich lieber gar nicht reden.«
»Warum nicht?«
»Weil es zu traurig war. Wie schnell dich dieses Mistzeug in die Knie zwingt, das ist erschreckend. Weil’s chic ist, von wegen, ich habe noch ein paar Monate durchgehalten, dann bin ich wieder bei meiner Mutter eingezogen. Sie hatte mich fast drei Jahre nicht gesehen, sie hat die Tür aufgemacht und gesagt: ›Nur daß du’s weißt, ich hab nichts zu essen im Haus.‹ Ich bin in Tränen ausgebrochen und habe zwei Monate lang das Bett nicht verlassen. Zu dem Zeitpunkt war sie ausnahmsweise mal clean. Sie war die richtige, um mich da rauszuholen, wirst du sagen. Und als ich das erste Mal aufstand, bin ich wieder arbeiten gegangen. Damals habe ich mich nur von Brei und kleinen Gläschen ernährt. Doktor Freud läßt grüßen! Nach dem CinemaScope Dolby Stereo, mit Ton, Licht und Emotionen aller Art gab es wieder ein Leben in Schwarzweiß und Kleinformat. Ich habe ferngesehen, und an den Quais wurde mir immer schwindlig.«
»Hast du daran gedacht …?«
»Ja. Ich habe mir vorgestellt, wie mein Geist zu den Klängen von Tornami a vagheggiar, Te solo vuol amar … zum Himmel auffährt … und mein Vater mich lachend mit ausgebreiteten Armen empfängt: ›Ah! Da sind Sie ja endlich, Mademoiselle! Sie werden sehen, hier ist es noch schöner als an der Riviera.‹«
Sie weinte.
»Nein, nicht weinen …«
»Doch. Mir ist danach.«
»Gut, dann wein halt.«
»Du bist nicht so kompliziert, das ist gut …«
»Stimmt. Ich hab zwar viele Macken, aber kompliziert bin ich nicht. Sollen wir aufhören?«
»Nein.«
»Willst du was trinken? Eine heiße Milch mit Orangenblüten, wie Paulette sie mir immer gemacht hat?«
»Nein, danke. Wo war ich stehengeblieben?«
»Schwindelgefühle.«
»Ja, Schwindelgefühle. Ehrlich gesagt hätte man mir nur auf den Rücken schnipsen müssen, und ich wäre umgefallen, aber statt dessen trug der Zufall schwarze Handschuhe aus zartem Ziegenleder und klopfte mir eines Morgens auf die Schulter. An diesem Tag vertrieb ich mir die Zeit mit Watteaus Figuren und saß vornübergebeugt auf einem Stuhl, als ein Mann hinter mir vorbeiging. Ich sah ihn oft. Er scharwenzelte immer um Studenten herum und betrachtete heimlich ihre Zeichnungen. Ich hielt ihn für einen Aufreißer, wobei mir seine sexuellen Neigungen unklar waren. Ich sah ihn mit der Jugend schäkern, die sich geschmeichelt fühlte, und bewunderte sein Gebaren. Er trug immer herrliche Mäntel, sehr lang, maßgeschneiderte Anzüge, Seidentücher und Seidenschals. Ich hatte gerade meine kleine Pause, saß deshalb über mein Heft gebeugt und sah nur seine wunderschönen Schuhe, sehr elegant und blitzblank. ›Darf iesch Ihnen eine persönliche Frage stellen, Mademoiselle? Aben Sie eiserne Moralvorstellungen?‹ Ich fragte mich natürlich, wohin er wollte. Ins Hotel? Aber gut. Hatte ich eiserne Moralvorstellungen? Ich, die ich Séraphin Tico bestach und davon träumte, das Werk Gottes zunichte zu machen? ›Nein‹, antwortete ich, und dank dieser kleinen anmaßenden Erwiderung bin ich in den nächsten Schlamassel geschlittert … ein exorbitanter diesmal …«
»Was für einer?«
»Ein unsäglicher Schlamassel.«
»Was hast du gemacht?«
»Das gleiche wie vorher. Aber statt in einem besetzten Haus zu wohnen und die Dienstmagd eines Tobsüchtigen zu sein, wurde ich die eines Betrügers.«
»Hast du … hast du dich …«
»Prostituiert? Nein. Obwohl …«
»Was hast du gemacht?«
»Fälschungen.«
»Geld?«
»Nein, Bilder. Und das Schlimmste, es hat mir sogar Spaß gemacht! Am Anfang jedenfalls. Später grenzte dieser Spaß an Sklaverei, aber am Anfang war es total witzig. Wo ich einmal zu was nütze war! Ich sag dir, ich hab in einem unglaublichen Luxus gelebt. Nichts war zu schön für mich. Mir war kalt? Er schenkte mir die besten Kaschmirpullis. Du weißt doch, der dicke blaue Pullover mit der Kapuze, den ich ständig anhabe?«
»Jaa.«
»Elftausend Franc.«
»Neeee!«
»Dooooch. Und ich hatte gut ein Dutzend davon. Ich hatte Hunger? Pling pling, Room Service und Hummer in rauhen Mengen. Ich hatte Durst? Ma qué, Champagne! Ich langweilte mich? Theater, Shopping, Musik! ›Was iemmer du wiellst, sag es deinem Vittorio. Wenn du gehst, biest du den Job los.‹ Nur, warum sollte ich gehen? Ich wurde gehätschelt, ich hatte meinen Spaß, ich tat, was mir gefiel, ich ging in alle Museen, von denen ich geträumt hatte, ich lernte Leute kennen, nachts irrte ich mich im Zimmer. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, ich habe sogar mit Jeremy Irons geschlafen.«
»Wer ist das denn?«
»Mensch, du bist aber auch ein hoffnungsloser Fall. Na gut, egal. Ich las, ich hörte Musik, ich verdiente Geld. Im nachhinein betrachtet war es eine andere Form von Selbstmord. Bequemer. Ich war vom Leben und den wenigen Leuten, die mich mochten, abgeschnitten. Von Pierre und Mathilde Kessler vor allem, die stocksauer auf mich waren, von meinen früheren Freunden, von der Wirklichkeit, von der Moral, vom rechten Weg, von mir selbst …«
»Hast du die ganze Zeit geschuftet?«
»Die ganze Zeit. Ich hab nicht wirklich viel produziert, aber ich mußte das Gleiche tausendmal wiederholen, wegen technischer Probleme … Die Patina, die Grundierung und alles … Das Bild selbst war eigentlich Peanuts, der Alterungsprozeß war das Schwierige. Ich arbeitete mit Jan zusammen, einem Holländer, der uns mit altem Papier versorgte. Das war sein Beruf: durch die Welt zu reisen und mit Papierrollen zurückzukommen. Er hatte was von einem verrückten Chemiker, der pausenlos nach einer Methode sucht, um aus neu alt zu machen … Ich habe ihn nie auch nur ein einziges Wort sagen hören, ein faszinierender Typ … Dann habe ich jegliches Zeitgefühl verloren … Im Grunde habe ich mich von diesem Antileben aufsaugen lassen … Das sah man nicht mit bloßem Auge, aber mittlerweile war ich ein Wrack. Ein elegantes Wrack … Den Schlund immer feucht, maßgeschneiderte Blusen und Abscheu vor meiner Persönlichkeit … Ich weiß nicht, wie das ganze ausgegangen wäre, wenn Leonardo mich nicht gerettet hätte …«
»Welcher Leonardo?«
»Leonardo da Vinci. Ich habe mich sofort gesträubt. Solange wir uns an die kleinen Meister hielten, an die Skizzen von Skizzen, an die Entwürfe von Entwürfen oder an die Übermalungen von Übermalungen, konnte man den weniger skrupulösen Händlern etwas vormachen, aber das hier war zuviel … Ich habe es gesagt, aber sie haben nicht auf mich gehört … Vittorio war zu gierig geworden … Ich weiß nicht genau, was er mit der Knete gemacht hat, aber je mehr er eingestrichen hat, um so mehr brauchte er … Auch er schien seine schwachen Seiten zu haben … Also habe ich den Mund gehalten. Es war schließlich nicht mein Problem … Ich bin in den Louvre zurückgekehrt, in die Graphikabteilung, wo ich Zugang zu bestimmten Dokumenten hatte, und habe sie mir eingeprägt … Vittorio wollte etwas Kleineres. ›Siehst du diese Etude hier? Du läßt diesch von ihr inspirieren, aber diesen Figuren da, die läßt du mier bestehen …‹ Zu dieser Zeit lebten wir nicht mehr im Hotel, sondern in einer großen möblierten Wohnung. Ich habe mich seinen Anweisungen gefügt und gewartet … Er wurde immer nervöser. Er verbrachte Stunden am Telefon, scheuerte den Teppich durch und spuckte auf die Madonna. Eines Morgens kam er wie ein Irrer in mein Zimmer gestürzt: ›Iesch muß weg, aber du riehrst diesch niescht von ier, verstanden? Du gehst niescht raus, bevor iesch es dier erlaubt abe … Ast du verstanden? Du riehrst diesch niescht von der Stelle!‹ Am Abend hat mich ein Typ angerufen, den ich nicht kannte: ›Verbrenn alles‹, und hat aufgelegt. Gut … Ich habe stapelweise Fälschungen zusammengesucht und sie im Spülbecken vernichtet. Und weiter gewartet … Tagelang … Ich habe mich nicht nach draußen gewagt. Ich habe mich nicht getraut, aus dem Fenster zu sehen. Ich war total paranoid geworden. Aber nach einer Woche bin ich gegangen. Ich hatte Hunger, ich brauchte eine Zigarette, ich hatte nichts mehr zu verlieren … Ich bin zu Fuß nach Meudon zurück und habe ein verschlossenes Haus mit einem Zu verkaufen-Schild am Gitter vorgefunden. War sie gestorben? Ich bin über die Mauer geklettert und habe in der Garage geschlafen. Dann bin ich nach Paris zurückgekehrt. Solange ich lief, hielt ich durch. Ich bin ums Haus gestrichen für den Fall, daß Vittorio zurückkommt … Ich hatte kein Geld, keine Orientierung, keine Bezugspunkte, nichts. Ich habe noch zwei Nächte draußen verbracht, in meinem Kaschmirpulli zu elftausend Franc, habe Kippen geschnorrt und mir meinen Mantel klauen lassen. Am dritten Abend habe ich bei Pierre und Mathilde geklingelt und bin vor ihrer Tür zusammengebrochen. Sie haben mich wieder aufgepäppelt und mich hier untergebracht, im siebten Stock. Eine Woche später saß ich immer noch auf dem Boden und fragte mich, was ich jetzt wohl mal werden könnte … Alles, was ich wußte, war, daß ich im Leben nie mehr malen wollte. Ich war auch nicht bereit, in die Welt zurückzukehren. Die Leute machten mir angst … Also bin ich Raumpflegerin in Nachtarbeit geworden … So habe ich etwas über ein Jahr gelebt. In der Zwischenzeit habe ich meine Mutter wiedergefunden. Sie hat mir keine Fragen gestellt … Ich habe nie herausgefunden, ob es Gleichgültigkeit oder Zurückhaltung war … Ich habe nicht nachgehakt, das konnte ich mir nicht erlauben: Ich hatte nur noch sie …
Welche Ironie? Ich hatte alles drangesetzt, um ihr zu entkommen, und jetzt … Zum Ausgangspunkt zurück, abzüglich der Träume. Ich bin dahinvegetiert, habe mir untersagt, allein zu trinken, und habe einen Ausweg aus meinen zehn Quadratmetern gesucht. Und dann bin ich zu Winteranfang krank geworden, und Philibert hat mich die Treppe runtergetragen in das Zimmer hier nebenan. Den Fortgang der Geschichte kennst du.«
Lange Stille.
»Tja«, wiederholte Franck mehrmals. »Tja.«
Er hatte sich aufgerichtet und die Arme verschränkt.
»Tja. Was für ein Leben? Verrückt. Und jetzt? Was machst du jetzt?«
»…«
Sie schlief. Er deckte sie bis zur Nasenspitze zu, nahm seine Sachen und ging auf Zehenspitzen hinaus. Jetzt, wo er sie kannte, wagte er nicht mehr, sich neben sie zu legen. Außerdem nahm sie den ganzen Raum ein.
Den ganzen Raum.
18
Er fühlte sich verloren.
Er irrte einen Moment durch die Wohnung, ging Richtung Küche, machte die Schranktüren auf und kopfschüttelnd wieder zu.
Das Salatherz auf dem Fensterbrett war ganz verschrumpelt. Er warf es in den Müll, nahm einen Stift und setzte sich hin, um seine Zeichnung zu beenden. Er zögerte bei den Augen. Sollte er zwei schwarze Punkte am Ende der Fühler malen oder eins darunter?
Verflucht! Sogar bei Schnecken war er eine Niete!
Okay, eins. Das sah niedlicher aus.
Er zog sich an. Schob auf Zehenspitzen sein Motorrad an der Pförtnerloge vorbei. Pikou sah ihn vorbeigehen, ohne Alarm zu schlagen. Gut so, Freundchen, gut so. Im Sommer kriegst du einen kleinen Lacoste, damit kannst du die Pekinesinnen verführen. Er ging noch ein paar Meter weiter, bevor er das Motorrad anließ, und stürzte sich in die Nacht.
Er bog die erste Straße nach links ab und fuhr immer geradeaus. Am Meer angekommen, legte er seinen Helm auf den Bauch und betrachtete die Manöver der Fischer. Er nutzte die Gelegenheit, um zwei, drei Worte mit seinem Motorrad zu wechseln. Damit es die Situation ein wenig verstand.
Leichter Drang, sich gehenzulassen.
Zuviel Wind vielleicht?
Er schnaubte.
Genau! Das hatte er vorhin gesucht: einen Kaffeefilter! Seine Gedanken sortierten sich wieder. Daraufhin lief er am Hafen entlang bis zur ersten offenen Kneipe und trank inmitten glänzender Friesennerze seine schwarze Brühe. Als er aufsah, erblickte er im Spiegel einen alten Bekannten:
»Na? Auch hier?«
»Tja.«
»Was machst du so?«
»Ich trinke Kaffee.«
»Mein Gott, siehst du fertig aus.«
»Müde.«
»Immer noch hinter den Rockzipfeln her?«
»Nein.«
»Komm schon. Du warst doch wohl heut nacht mit einem Mädchen zusammen?«
»Das war eigentlich kein Mädchen.«
»Was dann?«
»Keine Ahnung.«
»He ho, Alter! Chefin! Spülen Sie mal seine Tasse aus, mein Kumpel schuppt sich gerade.«
»Nee, nee. Laß.«
»Was denn?«
»Alles.«
»Mensch, was hast du denn, Lestaf?«
»Herzschmerz.«
»Oooh, bist du verliebt?«
»Gut möglich.«
»He Mann! Das sind ja Neuigkeiten! Frohlocke, Alter! Frohlocke! Auf die Theke mit dir! Sing uns ein Ständchen!«
»Hör auf.«
»Was hast du denn?«
»Nichts. Dies… Diesmal ist es eine richtig Gute. Zu gut für mich jedenfalls.«
»Was denn. So ein Blödsinn! Niemand ist zu gut für niemand. Schon gar nicht die Miezen!«
»Sie ist keine Mieze, hab ich gesagt.«
»Ein Typ?!«
»Unsinn.«
»Ein Androide? Lara Croft vielleicht?«
»Besser.«
»Besser als Lara Croft? Wow! Also mit gigantischem Vorbau?«
»75 A, würd ich sagen.«
Er lächelte:
»Wenn du in ein Brett verknallt bist, hast du’s schlecht getroffen, jetzt kapier ich’s.«
»Nix da, nix kapierst du!« regte er sich auf. »Sowieso hast du überhaupt noch nie was kapiert! Du reißt nur immer die Klappe auf, damit keiner merkt, daß du nix kapierst! Damit gehst du bloß allen schon immer auf den Zeiger! Du tust mir leid. Wenn sie mit mir spricht, versteh ich die Hälfte der Wörter nicht, klar? Neben ihr komm ich mir ganz mickrig vor. Wenn du wüßtest, was sie schon alles durchgemacht hat. Scheiße, ich bring’s nicht. Ich glaub, ich laß es lieber.«
Sein Kumpel war beleidigt.
»Was denn?« brummte Franck.
»Zu garstig.«
»Ich hab mich verändert.«
»Ach was. Du bist nur müde.«
»Ich bin seit zwanzig Jahren müde.«
»Was hat sie durchgemacht?«
»Nur Scheiße.«
»Das ist doch perfekt! Brauchst du ihr nur was andres zu bieten!«
»Was denn?«
»He! Machst du das extra oder was?«
»Nein.«
»Doch. Du machst das extra, damit ich Mitleid hab. Denk doch mal nach. Ich bin sicher, du kommst drauf.«
»Ich hab Angst.«
»Gutes Zeichen.«
»Ja, aber wenn ich mich …«
Die Wirtin räkelte sich.
»Meine Herren, das Brot ist da. Wer will ein Sandwich? Der junge Mann?«
»Danke, es geht auch ohne.«
Ja, es würde auch ohne gehen.
Gegen die Wand oder sonstwohin.
Wir werden sehen.
Der Markt wurde gerade aufgebaut. Franck kaufte Blumen von einem Lastwagen herunter, hast du’s passend, Junge? und drückte sie in seiner Jacke platt.
Blumen waren kein schlechter Anfang, oder?
Hast du’s passend, Junge? Und ob, Alte! Und ob!
Und zum ersten Mal in seinem Leben fuhr er bei Sonnenaufgang Richtung Paris.
Philibert duschte gerade. Er brachte Paulette das Frühstück und drückte ihr seinen Stoppelbart auf die Hängebäckchen:
»Na, Omi, geht’s dir nicht gut?«
»Du bist ja völlig durchgefroren? Wo kommst du denn her?«
»Och«, sagte er und richtete sich auf.
Sein Pulli stank nach Mimosen. In Ermangelung einer Vase schnitt er mit dem Brotmesser eine Plastikflasche zurecht.
»He, Philou?«
»Sekunde, ich dosiere gerade mein Nesquick. Stellst du uns noch eine Einkaufsliste zusammen?«
»Ja. Wie schreibt man noch mal Riwjera?«
»Mit v und zwei i.«
»Danke.«
Mimosen wie an der Riwjcra … Riviera. Er faltete seine Nachricht und plazierte sie mitsamt Vase neben der Schnecke.
Er rasierte sich.
»Wo waren wir noch mal?« fragte der andere, von neuem im Spiegel.
»Schon gut. Ich krieg das irgendwie hin.«
»Na gut … dann viel Glück!«
Franck verzog das Gesicht.
Wegen des After-shaves.
Er kam zehn Minuten zu spät, die Versammlung hatte bereits begonnen.
»Da ist ja unser Charmeur«, verkündete der Chef.
Lächelnd nahm er Platz.
19
Wie jedesmal, wenn er erschöpft war, verbrannte er sich gründlich. Sein Gehilfe bestand darauf, ihn zu verbinden, und schließlich hielt er ihm schweigend den Arm hin. Keine Kraft, zu jammern oder Schmerz zu empfinden. Apparat durchgeknallt. Außer Betrieb, außer Gebrauch, außer Gefecht, außer allem.
Völlig benommen kehrte er zurück, stellte den Wecker, um nicht bis zum Morgen zu schlafen, zog sich, ohne die Schnürsenkel zu lösen, die Schuhe aus, ließ sich aufs Bett fallen und streckte die Arme zur Seite aus. Ja, jetzt tat seine Hand wieder weh, und er unterdrückte einen Schmerzenslaut, bevor er wegsackte.
Er schlief schon über eine Stunde, als Camille – so leicht, das konnte nur sie sein – ihn im Traum heimsuchte.
Leider konnte er nicht sehen, ob sie nackt war. Sie lag auf ihm. Oberschenkel auf Oberschenkel, Bauch auf Bauch und Schulter auf Schulter.
Sie hatte ihren Mund an sein Ohr gedrückt und flüsterte:
»Lestafier, ich werde dich vergewaltigen.«
Er lächelte im Schlaf. Zum einen, weil es ein herrliches Delirium war, und zum anderen, weil ihr Atem ihn jenseits aller Abgründe kitzelte.
»Ja, bringen wir es hinter uns. Ich werde dich vergewaltigen, damit ich einen guten Grund habe, dich in die Arme zu schließen. Jetzt rühr dich vor allem nicht. Wenn du dich wehrst, erdrossle ich dich, mein Junge.«
Er wollte alles zusammenpacken, seinen Körper, seine Hände und sein Bettzeug, um sicherzustellen, daß er nicht wach wurde, aber jemand hatte ihn an den Handgelenken gepackt.
Am Schmerz konnte er erkennen, daß er nicht träumte, und weil er litt, erkannte er sein Glück.
Als sie ihre Hände auf seine legte, spürte Camille die Mullbinde: »Hast du Schmerzen?«
»Ja.«
»Um so besser.«
Und sie fing an sich zu bewegen.
Er auch.
»Tz tz«, sie wurde ärgerlich, »laß mich machen.«
Sie spuckte ein Stück Plastik aus, stülpte es ihm über, schmiegte sich an seinen Hals, auch noch etwas tiefer und umfaßte mit den Händen sein Kreuz.
Nach einigem lautlosen Vor und Zurück packte sie ihn an den Schultern, straffte sich und stöhnte, so kurz, daß man es nicht hätte schreiben können.
»Schon?« fragte er ein wenig enttäuscht.
»Ja.«
»Oh.«
»Ich war zu hungrig.«
Franck verschränkte die Arme hinter ihrem Rücken.
»Pardon«, fügte sie hinzu.
»Die Entschuldigung gilt nicht, junge Frau. Ich werde Anzeige erstatten.«
»Gern.«
»Nein, nicht sofort. Ich fühl mich grad zu gut. Beweg dich nicht, bitte. Oh, Scheiße.«
»Was denn?«
»Ich schmier dich grad mit Wundsalbe voll.«
»Um so besser«, lächelte sie, das konnte nicht schaden.
Franck schloß die Augen. Er hatte gerade das große Los gezogen. Eine zärtliche, intelligente, schelmische Frau. Ach, Gottlob. Es war zu schön, um wahr zu sein.
Ein wenig klebrig, ein wenig schmierig schliefen sie beide ein, unter einer Decke, die nach Ausschweifung und Vernarbung roch.
20
Als sie aufstand, um nach Paulette zu schauen, trat Camille auf seinen Wecker und zog den Stecker. Niemand wagte ihn zu wecken. Weder die zerstreute Hausgemeinschaft noch sein Chef, der ohne zu murren seinen Posten einnahm. Was mußte er leiden, der Arme.
Um zwei Uhr nachts kam er aus seinem Zimmer und klopfte an die hinterste Tür.
Er kniete sich neben ihre Matratze.
Sie las.
»Hm … Hm.«
Sie senkte die Zeitung, hob den Kopf und tat erstaunt:
»Ja, bitte?«
»Tja, Herr Wachtmeister, ich … ich möchte Anzeige erstatten.«
»Wurde Ihnen etwas gestohlen?«
He ho, langsam! Ganz ruhig jetzt! Er würde nicht »mein Herz« oder so was in der Richtung antworten.
»Na ja … eh … Gestern ist jemand bei mir eingedrungen.«
»So?«
»Ja.«
»Waren Sie dabei?«
»Ich schlief.«
»Haben Sie etwas gesehen?«
»Nein.«
»Wie ärgerlich. Sind Sie wenigstens gut versichert?«
»Nein«, antwortete er betreten.
Sie seufzte:
»Das ist nun wirklich eine sehr vage Aussage. Ich weiß, diese Dinge sind nicht sehr angenehm, aber … Wissen Sie … Am besten wäre es, wir würden den Tathergang noch einmal rekonstruieren.«
»Tatsächlich?«
»Ja sicher.«
Mit einem Satz war er auf ihr. Sie japste.
»Auch ich habe Hunger, auch ich! Ich habe seit gestern abend nichts mehr gegessen, und du wirst es ausbaden, Mary Poppins. Verflucht, wie lange das hier drin schon blubbert. Ich kann mich kaum beherrschen.«
Er verschlang sie vom Kopf bis zu den Füßen.
Zuerst machte er sich über ihre Sommersprossen her, dann knabberte, pickte, knusperte, leckte, verschlang, mampfte, futterte, biß und nagte er sie ab bis auf die Knochen. Unterwegs kam sie auf den Geschmack und zahlte es ihm heim.
Sie wagten nicht, einander anzusprechen oder gar anzuschauen.
Camille war betrübt.
»Was ist los?« fragte er beunruhigt.
»Ach je, der Herr. Ich weiß, es ist sehr ungeschickt, aber ich brauchte einen Durchschlag für unser Archiv und habe vergessen, Kohlepapier einzulegen. Wir werden wohl noch mal von vorn anfangen müssen.«
»Jetzt??«
»Nein. Nicht jetzt. Aber zu lange sollten wir nicht warten. Mitunter vergißt man dann gewisse Details.«
»Gut. Und Sie glauben, daß ich eine Entschädigung erhalte?«
»Das würde mich wundern.«
»Er hat alles mitgenommen, wissen Sie.«
»Alles?«
»Fast alles.«
»Das ist hart.«
Camille lag auf dem Bauch, das Kinn auf die Hände gestützt.
»Du bist schön.«
»Hör auf«, gab sie zurück und vergrub ihr Gesicht in der Armbeuge.
»Nein, hast recht, du bist nicht schön, du bist … Wie soll ich sagen … Lebendig. Alles an dir ist lebendig: deine Haare, deine Augen, deine Ohren, deine kleine Nase, dein großer Mund, deine Hände, dein göttlicher Po, deine langen Beine, deine Grimassen, deine Stimme, deine Zärtlichkeit, dein Schweigen, dein … deine …«
»Mein Organismus?«
»Jaaa.«
»Ich bin nicht schön, aber mein Organismus ist schön lebendig. Super Aussage. Das hat mir ja noch nie jemand gesagt.«
»Dreh mir nicht die Wörter im Mund rum«, sagte er düster, »das ist zu leicht für dich. Hm.«
»Was?«
»Ich hab noch mehr Hunger als vorhin. Ich muß jetzt wirklich was essen.«
»Ah … gut … bis denn … Lebewohl, wie man so schön sagt.«
Er wurde panisch:
»Willst du … nicht, daß ich dir was mitbringe?«
»Was bietest du mir denn an?« fragte sie und räkelte sich.
»Was du willst.«
Dann, nach kurzer Überlegung:
»… Nichts. Alles …«
»Okay. Das nehm ich.«
Er saß an der Wand, das Tablett auf den Knien, machte eine Flasche auf und hielt ihr ein Glas hin. Sie legte ihr Heft weg.
Sie prosteten sich zu.
»Auf die Zukunft.«
»Nein. Keinesfalls. Auf jetzt«, verbesserte sie ihn.
Autsch.
»Die Zukunft. Hm … Willst … willst du …«
Sie sah ihm fest in die Augen:
»Franck, mach mir keine Angst, wir werden uns doch jetzt nicht verlieben?«
Er tat, als hätte er sich verschluckt.
»Am, orrgl, argh. Bist du verrückt? Natürlich nicht!«
»Uff! Hast du mir einen Schrecken eingejagt. Wir zwei haben schon so viele Dummheiten gemacht.«
»Du sagst es. Wobei, eine mehr oder weniger …?«
»Och, warum nicht?«
»So?«
»Ja. Laß uns vögeln, saufen, Spazierengehen, Händchen halten, nimm mich zärtlich und laß mich über dich hinwegfegen, wenn du willst. Aber nicht verlieben. Bitte.«
»Gut, gut. Ist notiert.«
»Malst du mich?«
»Ja.«
»Wie malst du mich?«
»Wie ich dich sehe.«
»Seh ich gut aus?«
»Mir gefällst du.«
Er wischte seinen Teller mit Brot auf, stellte sein Glas ab und ließ die behördlichen Schikanen über sich ergehen.
Diesmal ließen sie sich Zeit, und nachdem sich jeder auf seine Seite gerollt hatte, gesättigt und am Rande des Abgrunds, wandte sich Franck an die Zimmerdecke:
»Ist gut, Camille, ich werde dich niemals lieben.«
»Danke, Franck. Ich auch nicht.«
TEIL 5
1
Alles blieb beim alten, alles änderte sich. Franck verlor seinen Appetit, Camille bekam wieder Farbe. Paris wurde schöner, heller, fröhlicher. Die Menschen waren heiterer, der Asphalt elastischer. Alles schien in Reichweite, die Konturen der Welt waren klarer und die Welt leichter.
Mikroklima auf dem Champ-de-Mars? Erwärmung ihres Planeten? Einstweiliges Ende der Schwerelosigkeit? Nichts war mehr sinnig, nichts war mehr wichtig.
Sie pendelten vom Bett des einen zur Matratze der anderen, lagen wie auf Eiern, sagten sich Zärtlichkeiten und streichelten einander dabei den Rücken. Da sie sich voreinander nicht ausziehen wollten, waren sie etwas linkisch, etwas unbeholfen und bedeckten sich schamhaft mit dem Laken, bevor sie ihren Ausschweifungen nachgingen.
Neue Lehrzeit oder erste Bleistiftskizze? Sie waren aufmerksam und strengten sich im stillen an.
Pikou legte die Jacke ab, und Madame Perreira stellte die Blumentöpfe raus. Für die Wellensittiche war es noch zu früh.
»Klopf, klopf, klopf«, machte sie eines Morgens, »ich habe was für Sie.«
Der Brief war in Côtes-d’Armor abgestempelt worden.
10. September 1889. Anführungsstriche. Was mir in der Kehle saß, ist im Begriff, sich aufzulösen, ich habe noch etwas Mühe beim Essen, aber allmählich geht es wieder besser. Abführungsstriche. Danke.
Als sie die Karte umdrehte, erkannte Camille Van Goghs fiebriges Gesicht.
Sie steckte sie in ihr Heft.
Der Monoprix hatte das Nachsehen. Dank der drei Bücher, die Philibert ihnen geschenkt hatte, Das verborgene, unbekannte Paris, 300 Pariser Fassaden für Neugierige und Die Pariser Teehäuser, kam frischer Wind auf, öffnete Camille die Augen und redete nicht mehr schlecht über ihr Viertel, in dem der Jugendstil unter freiem Himmel zu besichtigen war.
Von nun an kutschierten sie von den russischen Isbi am Boulevard Beauséjour zur Rue de la Mouzaïa am Park Buttes-Chaumont, kamen am Hôtel du Nord vorbei und dem Friedhof Saint-Vincent, wo sie mit Maurice Utrillo und Eugène Boudin auf dem Grab von Marcel Aymé picknickten.
Théophile Alexandre Steinlen, Maler, wunderschöne Darstellungen von Katzen und menschlichem Elend, ruht unter einem Baum im südöstlichen Teil des Friedhofs.
Camille legte den Reiseführer auf den Schoß und wiederholte:
Wunderschöne Darstellungen von Katzen und menschlichem Elend, ruht unter einem Baum im südöstlichen Teil des Friedhofs. Eine schöne Beschreibung, oder?
»Warum nimmst du mich immer mit zu den Toten?«
»Pardon?«
»…«
»Wohin möchten Sie denn gehen, liebe Paulette? In die Disco?«
»…«
»Hallo! Paulette?«
»Laß uns nach Hause gehen. Ich bin müde.«
Und auch dieses Mal endeten sie wieder in einem Taxi, dessen Fahrer wegen des Rollis eine Flappe zog.
Ein wahrer Idiotendetektor war das.
Sie war müde.
Wurde immer müder und immer schwerer.
Camille wollte es sich nicht eingestehen, aber sie mußte beständig auf sie einwirken und mit ihr kämpfen, um sie anziehen und füttern zu dürfen und zu einer Unterhaltung zu bewegen. Noch nicht mal zu einer Unterhaltung, zu einer Antwort. Der alte Dickschädel wollte nicht zum Arzt, und die junge Nachgiebige wollte sich nicht über ihren Willen hinwegsetzen, zum einen war es nicht ihre Art, zum anderen war es Francks Aufgabe, sie zu überzeugen. Aber wenn sie in die Bibliothek gingen, vertiefte sie sich in medizinische Zeitschriften und Fachbücher und las deprimierendes Zeug über die Degeneration des Kleinhirns und andere Alzheimersche Unerfreulichkeiten. Anschließend stellte sie diese Pandorabüchsen seufzend wieder weg und faßte schlechte Vorsätze: Wenn sie sich nicht waschen ließ, wenn sie sich heute für nichts interessierte, wenn sie ihren Teller nicht aufessen wollte und wenn sie zum Spazierengehen lieber den Mantel über ihren Morgenrock zog, so war das letztendlich ihr gutes Recht. Ihr unveräußerliches Recht. Sie würde sie damit nicht nerven, und wer sich daran störte, brauchte sie nur auf ihre Vergangenheit anzusprechen, auf ihre Mutter, die Abende bei der Weinlese, auf den Tag, an dem der Herr Pfarrer beinahe in der Louère ertrunken wäre, weil er das Netz ein wenig zu schnell ausgeworfen und es sich in einem Knopf seiner Soutane verfangen hatte, oder aber auf ihren Garten, um das Leuchten in ihre trüben Augen zurückzuholen. Camille jedenfalls hatte noch nichts Besseres gefunden.
»Und als Salat, was haben Sie da genommen?«
»Margeriten und Schnittsalat.«
»Und als Karotten?«
»Pastinaken, natürlich.«
»Und als Spinat?«
»Oh, als Spinat. Mangold. Der war ziemlich ergiebig.«
»Aber wie können Sie sich bloß an all die Pflanzen erinnern?«
»Ich erinnere mich sogar an die Verpackungen. Ich habe jeden Abend im Gartenkatalog von Vilmorin geblättert, wie andere ihr Meßbuch traktierten. Das habe ich geliebt. Mein Mann träumte von Patronentaschen, wenn er seine Jagdhefte las, und ich hatte ein Faible für Pflanzen. Die Leute kamen von weither, um meinen Garten zu bewundern, weißt du?«
Sie setzte sie ins Licht und malte sie, während sie ihr lauschte.
Und je mehr sie sie malte, um so mehr liebte sie sie.
Hätte sie stärker gekämpft, um sich auf den Beinen zu halten, wenn der Rollstuhl nicht gewesen wäre? Hatte Camille sie infantilisiert, indem sie sie ständig bat, sich hinzusetzen, damit sie schneller vorwärts kamen? Vielleicht.
Sei’s drum. Was sie miteinander erlebten, all die Blicke, all die gedrückten Hände, während das Leben bei der geringsten Erinnerung zerbröselte, konnte ihnen kein Mensch mehr nehmen. Weder Franck noch Philibert, die meilenweit davon entfernt waren, das Irrationale an ihrer Freundschaft zu erfassen, noch die Ärzte, die noch nie einen Menschen davon abgehalten hatten, an den Strand zurückzukehren, acht Jahre alt zu sein und heulend »Herr Pfarrer! Herr Pfarrer!« zu schreien, da ein ertrunkener Pfarrer für alle seine Meßdiener der direkte Weg in die Hölle bedeutete.
»Ich habe ihm meinen Rosenkranz zugeworfen, als ob ihm das geholfen hätte, dem armen Mann. Ich glaube, an dem Tag habe ich angefangen, meinen Glauben zu verlieren, denn anstatt Gott anzuflehen, hat er nach seiner Mutter gerufen. Das fand ich verdächtig.«
2
»Franck?«
»Mmm.«
»Ich mache mir Sorgen um Paulette.«
»Ich weiß.«
»Was sollen wir tun? Sie zum Arzt schleifen?«
»Ich glaube, ich verkaufe mein Motorrad.«
»Na toll. Dir ist scheißegal, was ich erzähle.«
3
Er verkaufte es nicht. Er tauschte es bei seinem Grillmeister gegen einen hasenfüßigen Golf. In dieser Woche war er am Boden zerstört, hütete sich aber, es den anderen zu zeigen, und sorgte am darauffolgenden Sonntag dafür, daß sich alle drei um Paulettes Bett versammelten.
Wie es das Schicksal wollte, war schönes Wetter.
»Arbeitest du heute nicht?« fragte sie ihn.
»Nöö, hab heut keine Lust. Sagt mal, hm. War gestern nicht Frühlingsanfang?«
Die anderen verstanden die Welt nicht mehr. Von dem einen, der in seinen Hieroglyphen lebte, wie von den anderen, die seit Wochen kein Zeitgefühl mehr besaßen, war nicht das geringste Echo zu erwarten.
Er ließ sich nicht aus der Fassung bringen:
»Aber ja, ihr Pariser Stadtpflanzen! Es ist Frühling, sag ich euch!«
»Wirklich?«
Etwas träge, das Publikum.
»Ist euch das so egal?«
»Nein, nein.«
»Doch, das ist euch egal, das seh ich doch.«
Er war ans Fenster getreten:
»Also, ich mein ja nur. Es ist schade, mitanzusehen, wie die Chinesen auf dem Champ-de-Mars emporsprießen, wo wir ein schönes Häuschen auf dem Lande haben wie alle Geldsäcke in diesem Haus, und wenn ihr euch etwas beeilen würdet, könnten wir noch auf dem Markt von Azay vorbei und ein paar leckere Sachen fürs Mittagessen kaufen. Das heißt, das ist meine Meinung. Wenn euch das nicht reizt, geh ich wieder ins Bett.«
Einer Schildkröte gleich streckte Paulette ihren alten runzligen Hals unter dem Panzer hervor:
»Was?«
»Ach. Was ganz Einfaches nur. Ich dachte an Kalbskotelett mit gemischtem Gemüse. Und vielleicht Erdbeeren zum Nachtisch. Aber nur, wenn sie schön sind. Sonst mach ich einen Apfelkuchen. Wir müssen mal sehen. Einen kleinen Bourgueil von meinem Freund Christophe dazu und ein Mittagsschläfchen in der Sonne, macht euch das an?«
»Und deine Arbeit?« fragte Philibert.
»Pff … Ich mach doch nun wirklich genug, oder?«
»Und wie kommen wir da hin?« meine Camille ironisch, »in deinem Topcase?«
Er nahm einen Schluck Kaffee, bevor er genüßlich fallenließ:
»Ich hab ein schönes Auto, es steht vor der Tür, dieser verfluchte Pikou hat es heute morgen schon zweimal getauft, der Rollstuhl liegt zusammengeklappt hinten drin, und ich hab vorhin vollgetankt.«
Er stellte seine Tasse ab und nahm das Tablett:
»Los, Beeilung, Kinder. Ich muß noch Erbsen enthülsen.«
Paulette fiel aus dem Bett. Daran war nicht das Kleinhirn schuld, sondern die Überstürzung.
Gesagt, getan, und das Getane wurde jede Woche wiederholt.
Wie alle Geldsäcke – aber ohne sie, weil diese einen Tag Vorsprung hatten – standen sie am Sonntag sehr früh auf und kamen am Montagabend zurück, die Arme voller Lebensmittel, Blumen, Skizzen und einer gesunden Müdigkeit.
Paulette erwachte zu neuem Leben.
Mitunter erlitt Camille einen Anfall von Klarsicht und sah den Dingen ins Auge. Was sie mit Franck lebte, war sehr angenehm. Laß uns fröhlich sein, verrückt sein, die Türen verrammeln, etwas in die Rinden ritzen, unser Blut mischen, nicht mehr darüber nachdenken, uns gegenseitig erforschen, uns entblättern, ein bißchen leiden, von heute an die Rosen des Lebens pflücken, blablabla, aber es würde nie funktionieren. Sie hatte keine Lust, sich darüber auszulassen, aber an ihrer Affäre war nun einmal etwas faul. Zu viele Unterschiede, zu viele … Kurzum. Weiter. Es gelang ihr nicht, die hingebungsvolle und die wachsame Camille zusammenzubringen. Immerzu betrachtete die eine naserümpfend die andere.
Traurig, aber wahr.
Und dann auch wieder nicht. Manchmal gelang ihr ein distanzierter Blick, und die beiden Nervensägen verschmolzen zu einer einzigen, entwaffnet und naiv. Manchmal führte er sie in die Irre.
An diesem Tag, zum Beispiel. Der Coup mit dem Auto, dem Mittagsschlaf, dem Markt und alledem war schon nicht schlecht, aber das Beste kam noch.
Das Beste kam, als er am Ortseingang hielt und sich umdrehte:
»Omi, du solltest etwas laufen und den Rest mit Camille zu Fuß zurücklegen. Wir werden das Haus in der Zwischenzeit aufmachen.«
Genial.
Denn man mußte sie gesehen haben, die kleine Oma in Moltonhausschuhen, wie sie sich am Arm ihres jugendlichen Spazierstocks festklammerte, der sich seit Monaten vom Ufer entfernte und in der Vase versank, wie sie langsam voranschritt, ganz langsam, um nicht auszurutschen, wie sie dann den Kopf hob, die Knie hochnahm und die Umklammerung lockerte.
Das mußte man gesehen haben, um so alberne Worte wie Glück und Seligkeit zu erwägen. Dieses strahlende Lächeln plötzlich, diese königliche Haltung, das Nicken in Richtung der sich bewegenden Vorhänge und ihre unerbittlichen Kommentare über den Zustand der Blumenkästen und der Gartenpfade.
Wie schnell sie mit einem Mal lief, wie ihre Gesichtsfarbe wiederkehrte, mit den Erinnerungen und dem Geruch des lauwarmen Teers.
»Sieh nur, Camille, das ist mein Haus. Das ist es.«
4
Camille blieb stehen.
»Was ist denn? Was hast du denn?«
»Das ist … das ist Ihr Haus?«
»Ja, sicher! Oh, sieh nur, was für ein Durcheinander. Es ist gar nichts geschnitten worden. Was für ein Jammer.«
»Meins, könnte man meinen.«
»Pardon?«
Ihrs, nicht das in Meudon, in dem sich ihre Eltern das Gesicht zerkratzt hatten, sondern das Haus, das sie malte, seit sie groß genug war, einen Filzstift zu halten. Ihr kleines fiktives Haus, dieser Ort, an den sie sich mit ihren Träumen von Hühnern und Weißblechdosen zurückzog. Ihre Polly Pocket, ihr Barbie-Wohnwagen, ihr Marsupilamis-Nest, ihr blaues Häuschen am Berge, ihr Tara, ihre afrikanische Farm, ihr Felsentempel.
Paulettes Haus war eine kleine stämmige Frau, die den Hals reckte, die den Besucher mit den Händen in den Hüften empfing und vorgab, kein Wässerchen trüben zu können. Eine von denen, die die Augen niederschlugen und sich bescheiden gaben, wo doch alles in ihnen vor Zufriedenheit und Wohlbehagen strotzte.
Paulettes Haus war ein Frosch, der einmal so groß wie ein Ochse werden wollte. Die kleine Bruchbude eines Schrankenwärters, die sich nicht scheute, mit den Loireschlössern Chambord und Chenonceaux zu konkurrieren.
Großmannsträume, eine eitle und stolze Bäuerin, die sagt:
»Sehen Sie nur, Schwester. Es reicht doch, oder? Mein Schieferdach mit dem weißem Kalktuff, der die Tür- und Fensterrahmen zur Geltung bringt, das genügt doch, oder nicht?«
»Nein.«
»Ach so? Und meine beiden Dachgauben hier? Sie sind doch hübsch, meine Dachgauben mit den behauenen Steinen?«
»Mitnichten.«
»Mitnichten? Und das Kranzgesims? Ein Kamerad hat es mir zugeschnitten!«
»Sie reichen keineswegs heran, meine Liebe.«
Die hochnäsige Kleine ärgerte sich so sehr, daß sie sich mit Weinspalieren bedeckte, mit den unterschiedlichsten Blumentöpfen schminkte und ihre Verachtung sogar so weit trieb, sich über der Tür mit einem Hufeisen zu piercen. Ätsch, das hatten sie nicht, die ganzen Agnès Sorel und die anderen Damen Poitiers!
Paulettes Haus existierte.
Sie wollte nicht hineingehen, sie wollte ihren Garten sehen. Was für ein Jammer. Alles kaputt. Überall Quecken. Und außerdem war jetzt die Zeit der Aussaat. Der Kohl, die Karotten, die Erdbeeren, der Lauch. Der ganze gute Boden nur für Löwenzahn. Was für ein Jammer. Zum Glück habe ich meine Blumen. Das heißt, dafür ist es noch etwas zu früh. Wo sind die Narzissen? Ah! Hier! Und meine Krokusse? Und das hier, sieh mal, Camille, bück dich, wie schön sie sind. Ich sehe sie nicht, aber sie müßten hier irgendwo sein.
»Die kleinen blauen?«
»Ja.«
»Wie heißen sie?«
»Traubenhyazinthen. Ach«, stöhnte sie.
»Was denn?«
»Tja, man müßte sie auseinandersetzen.«
»Kein Problem! Darum kümmern wir uns morgen! Sie sagen mir, wir es geht.«
»Würdest du das tun?«
»Natürlich! Und Sie werden sehen, daß ich hier eifriger bin als in der Küche!«
»Die Duftwicken auch. Die sollten wir pflanzen. Das war die Lieblingsblume meiner Mutter.«
»Was immer Sie wollen.«
Camille befühlte ihre Tasche. Gut so, sie hatte ihre Farben nicht vergessen.
Sie stellten den Rollstuhl in die Sonne, und Philibert half ihr hinein. Zu viel Aufregung.
»Sieh nur, Omi! Sieh nur, wer da ist?«
Franck stand auf der Außentreppe, ein großes Messer in der einen Hand, eine Katze in der anderen.
»Ich glaube, ich mach euch lieber Kaninchen!«
Sie stellten die Stühle nach draußen und picknickten im Mantel. Beim Nachtisch wurden die Knöpfe aufgemacht, die Augen geschlossen, der Kopf nach hinten gelegt, die Beine weit von sich gestreckt und die gute Landsonne eingeatmet.
Die Vögel sangen, Franck und Philibert stritten sich:
»Das ist eine Amsel, sage ich.«
»Nein, eine Nachtigall.«
»Eine Amsel!«
»Eine Nachtigall! Verdammt, ich bin hier zu Hause! Ich kenn doch die Vögel!«
»Nicht doch«, seufzte Philibert, »du hast doch immer nur mit irgendwelchen Mofas gehandelt, wie willst du sie da gehört haben? Wohingegen ich, der ich in der Stille gelesen habe, alle Zeit der Welt hatte, mich mit ihren Dialekten vertraut zu machen. Die Amsel rollt, während der Gesang des Rotkehlchens Wassertropfen gleicht. Und in diesem Fall, kann ich dir sagen, ist es eine Amsel. Hörst du, wie sie rollt? Pavarotti bei seinen Stimmübungen.«
»Omi. Was ist das?«
Sie schlief.
»Camille. Was ist das?«
»Zwei Pinguine, die die Stille stören.«
»Sehr gut. Wenn das so ist … Komm, Philou, wir gehen angeln.«
»Ah? Äh. Es ist nur. Ich bin nicht sonderlich begabt, ich … ich … bei mir verheddert sich immer a… alles.«
Franck lachte.
»Komm, Philou, komm schon. Erzähl mir von deiner Geliebten, dann zeig ich dir, wo die Rolle ist.«
Philibert sah Camille mit großen Augen an.
»He! Ich hab nichts gesagt!« verteidigte sie sich.
»Nein, nein, sie war es nicht. Das war mein kleiner Finger.«
Wie zwei Comicfiguren – der große Croquignol mit seiner Fliege und seinem Monokel und der kleine Filouchard mit seiner Piratenbinde – entfernten sie sich Arm in Arm.
»Sag mal, mein Junge, sag deinem Onkel Franck, was für einen Köder du nimmst. Der Köder ist wichtig, weißt du? Die Viecher sind nämlich nicht blöd. Nein, nein. Die sind überhaupt nicht blöd.«
Als Paulette erwachte, drehten sie mit dem Handkarren eine Runde ums Dorf, dann steckte Camille sie in die Badewanne, damit sie sich aufwärmte.
Sie biß sich auf die Wangen.
Das war alles nicht sehr begreiflich.
Schweigen wir dazu.
Philibert machte Feuer, und Franck bereitete das Abendessen zu.
Paulette legte sich früh schlafen, und Camille zeichnete die beiden beim Schachspiel.
»Camille?«
»Mmm.«
»Warum malst du eigentlich ständig?«
»Weil ich nichts anderes kann.«
»Und jetzt? Wen machst du gerade?«
»Den Bauer und den König.«
Sie kamen überein, daß die Jungen auf dem Sofa schlafen sollten und Camille in Francks kleinem Bett.
»Ah«, gab Philibert zu Bedenken, »wäre es nicht besser, Camille nähme, hm, das große Bett, hm.«
Sie lächelten ihm zu.
»Gewiß bin ich kurzsichtig, aber doch nicht in dem Maße.«
»Nein, nein«, erwiderte Franck. »Sie geht in mein Zimmer. Wir halten es wie deine Cousins. Nicht vor der Hochzeit.«
Er wollte nämlich mit ihr im Bett seiner Kindheit schlafen. Unter seinen Fußballpostern und den Motocross-Pokalen. Es würde nicht sehr bequem sein und auch nicht sehr romantisch, aber es wäre der Beweis dafür, daß das Leben trotz allem ein gutes Mädchen war.
Er war so trübselig gewesen in diesem Zimmer. So trübselig.
Hätte man ihm gesagt, daß er eines Tages eine Prinzessin mitbrächte und sich hier hinlegte, neben sie, in dieses kleine Messingbett, wo früher einmal ein Loch war, in dem er als Kind verschwand, und wo er sich später rieb und von anderen Geschöpfen träumte, die weit weniger hübsch waren als sie. Er hätte es nie geglaubt. Er, der Picklige mit den großen Füßen und der Bronzepfanne über dem Kopf. Nein, das war nicht vorauszusehen gewesen.
Ja, das Leben war eine seltsame Köchin. Jahrelang im Kühlraum und dann hop! von einem Tag auf den anderen auf den Bratrost mit dir!
»Woran denkst du?« fragte Camille.
»Nichts. Nur dummes Zeug. Alles in Ordnung mit dir?«
»Ich kann nicht glauben, daß du hier aufgewachsen bist.«
»Warum nicht?«
»Pff. Das ist hier dermaßen hinterm Mond. Das ist nicht mal ein Dorf. Das ist … das sind … Nur kleine Häuser mit alten Leuten am Fenster. Und diese Hütte hier, in der sich seit den fünfziger Jahren nichts mehr getan hat. Ich habe noch nie so einen Herd gesehen. Und der Ofen, der den ganzen Platz einnimmt! Und die Klos im Garten! Wie kann sich ein Kind hier entfalten? Wie hast du das geschafft? Wie hast du es geschafft, hier rauszukommen?«
»Ich habe dich gesucht.«
»Hör auf. Das gilt nicht, haben wir gesagt.«
»Hast du gesagt.«
»Komm schon.«
»Du weißt genau, wie ich es geschafft habe, du hast doch das gleiche erlebt. Nur, daß ich die Natur hatte. Dieses Glück hatte ich. Ich war die ganze Zeit draußen. Und Philou kann sagen, was er will, es war eine Nachtigall. Das weiß ich, das hat mir mein Opa gesagt, und mein Opa wußte, wovon er spricht. Der brauchte keine Lockvögel.«
»Wie hältst du es dann aus, in Paris zu leben?«
»Ich lebe nicht.«
»Gibt’s hier keine Arbeit?«
»Nein. Nichts Spannendes. Aber wenn ich irgendwann mal Bälger haben sollte, dann laß ich sie nicht zwischen lauter Autos aufwachsen, das schwör ich dir. Ein Kind, das keine Stiefel, keine Angel und keine Schleuder hat, ist nicht echt. Warum lachst du?«
»Nichts. Ich finde dich süß.«
»Mir wäre lieber, du würdest mich was anderes finden.«
»Du bist aber auch nie zufrieden.«
»Wie viele willst du?«
»Pardon?«
»Gören?«
»He«, schimpfte sie. »Machst du das extra, oder was?«
»Moment, ich meine doch nicht zwangsläufig mit mir!«
»Ich will keine.«
»Echt nicht?« meinte er enttäuscht.
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Darum.«
Er packte sie im Nacken und zog sie an sein Ohr.
»Sag’s mir.«
»Nein.«
»Doch. Sag’s mir. Ich erzähl’s nicht weiter.«
»Weil ich nicht will, daß das Kind allein ist, wenn ich einmal sterbe.«
»Du hast recht. Deshalb muß man ganz viele machen. Und außerdem, weißt du …«
Er drückte sie noch fester.
»Du wirst nicht sterben. Du bist ein Engel, und Engel sterben nicht.«
Sie weinte.
»He, was ist los?«
»Ach, nichts. Ich kriege nur meine Tage. Es ist jedesmal dasselbe. Das zieht mich total runter, und ich fange bei der geringsten Kleinigkeit an zu heulen.«
Sie lächelte durch den Rotz:
»Da siehst du, ich bin kein Engel.«
5
Sie lagen schon länger im Dunkeln, unbequem ineinander verschlungen, als Franck sagte:
»Es gibt da was, das mich beschäftigt.«
»Was denn?«
»Du hast doch eine Schwester, oder?«
»Ja.«
»Warum seht ihr euch nie?«
»Ich weiß nicht.«
»Das ist doch bescheuert! Ihr müßt euch unbedingt sehen!«
»Warum?«
»Darum! Es ist doch klasse, eine Schwester zu haben! Ich hätte alles gegeben für einen Bruder! Alles! Sogar mein Rad! Sogar meine ultrageheimen Angelplätze! Meine Extrarunden am Flipper! Wie in dem Lied. Ein Paar Handschuhe, ein paar Ohrfeigen …«
»Ich weiß. Ich habe irgendwann mal darüber nachgedacht, aber mich nicht getraut.«
»Warum nicht?«
»Wegen meiner Mutter vielleicht.«
»Hör auf mit deiner Mutter. Sie hat dir nur weh getan. Du bist doch kein Masochist. Du schuldest ihr nichts, weißt du?«
»Doch, natürlich.«
»Natürlich nicht. Wenn sie sich danebenbenehmen, muß man seine Eltern nicht lieben.«
»Aber natürlich.«
»Warum denn?«
»Na ja, es sind nun mal deine Eltern.«
»Pff … Eltern werden ist nicht schwer, man braucht bloß zu vögeln. Danach wird’s kompliziert. Ich, zum Beispiel, werde keine Frau lieben, nur weil sie es sich angeblich auf einem Parkplatz hat besorgen lassen. Dafür kann ich nichts.«
»Bei mir ist es nicht dasselbe.«
»Nee, schlimmer. In was für einem Zustand du jedesmal zurückkommst, wenn du mit ihr zusammen warst. Schrecklich. Dein Gesicht ist ganz …«
»Halt. Darüber will ich nicht reden.«
»Okay, okay, nur eine Sache noch. Du bist nicht verpflichtet, sie zu lieben. Mehr hab ich dazu nicht zu sagen. Jetzt meinst du vielleicht, daß ich so bin, liegt an meinem Malus, und du hast recht. Aber nur, weil ich den Weg schon hinter mir habe, sag ich dir: Man muß seine Eltern nicht lieben, wenn sie sich völlig unmöglich benehmen, basta.«
»…«
»Bist du jetzt böse?«
»Nein.«
»Entschuldigung.«
»…«
»Du hast recht. Bei dir ist es nicht dasselbe. Sie hat sich ja trotz allem um dich gekümmert. Aber sie darf dich nicht davon abhalten, deine Schwester zu sehen, wenn du eine hast. Das Opfer ist sie wirklich nicht wert.«
»Nein.«
»Nein.«
6
Am nächsten Tag gärtnerte Camille nach Paulettes Anweisungen. Philibert setzte sich in den hinteren Teil des Gartens, um zu schreiben, und Franck bereitete für alle einen leckeren Salat.
Nach dem Kaffee war er es, der auf der Chaiselongue einschlief. Oh, wie ihm der Rücken weh tat.
Fürs nächste Mal würde er eine Matratze ordern. Nicht noch einmal so eine Nacht. Auf keinen Fall. Das Leben war ein gutes Mädchen, aber man brauchte deshalb nicht solche bescheuerten Risiken einzugehen. Durchaus nicht.
Sie kamen jedes Wochenende wieder. Mit und ohne Philibert. Meistens mit.
Camille – sie hatte es schon immer gewußt – reifte allmählich zu einer professionellen Gärtnerin heran.
Paulette bremste ihren Schwung:
»Nein. Das können wir nicht pflanzen! Denk dran, wir kommen nur einmal pro Woche. Wir brauchen was Robustes, was Widerstandsfähiges. Lupinen, wenn du willst, Flammenblumen oder Schmuckkörbchen. Schmuckkörbchen sind sehr hübsch. Ganz leicht. Die gefallen dir bestimmt.«
Und Franck besorgte über den Schwager eines Kollegen der Schwester des dicken Titi ein altes Motorrad, um damit zum Markt zu fahren oder René guten Tag zu sagen.
Er hatte also zweiunddreißig Tage ohne Bike durchgestanden und fragte sich immer noch, wie er das ausgehalten hatte.
Es war alt, es war häßlich, aber es knatterte köstlich:
»Hört euch das an«, rief er ihnen vom Schuppen aus zu, wo er herumhing, wenn er nicht in der Küche war, »hört euch das an, wie irre das klingt!«
Die anderen hoben träge den Kopf von ihren Sämlingen oder ihrem Buch.
»Knatter knatter knatter!«
»Klasse, was? Hört sich an wie eine Harley!«
Na ja. Sie nahmen ihre jeweilige Beschäftigung wieder auf, ohne ihn auch nur eines Kommentars zu würdigen.
»Pff. Ihr kapiert aber auch gar nix.«
»Wer ist diese Carla?« fragte Paulette Camille.
»Carla Davidson? Eine tolle Sängerin.«
»Kenn ich nicht.«
Philibert erfand ein Spiel für die Fahrt. Jeder mußte den anderen etwas beibringen, im Sinne einer Wissensvermittlung.
Philibert hätte einen exzellenten Lehrer abgegeben.
Irgendwann erklärte ihnen Paulette, wie man Maikäfer fängt:
»Morgens, wenn sie von der nächtlichen Kälte noch ganz träge sind und unbeweglich an ihren Blättern hängen, schüttelt man die Bäume, auf denen sie sitzen. Man schüttelt die Äste mit einer langen Stange und fängt sie auf einem Tuch auf. Man zerstampft sie, schüttet Kalk über sie und legt sie in einen Graben, daraus wird sehr guter stickstoffhaltiger Kompost. Aber man darf auf keinen Fall vergessen, sich etwas auf den Kopf zu ziehen!«
Ein andermal zerteilte Franck ihnen ein Kalb:
»Also, die besten Stücke zuerst: die Nuß, das Nußstück, das Frikandeau, die Blume, das Kalbskotelett, das Filet, das Karree, das heißt die ersten fünf Rippen und die nächsten drei, der Hals und der Bug. Dann folgen: die Kalbsbrust, die Knochendünnung und der Bauch. Und die dritte Kategorie: die Vorderhesse, die Hachsen und … Scheiße, eins fehlt mir noch.«
Philibert hingegen erteilte seinen Ungläubigen Nachhilfeunterricht, die mit Heinrich IV. nicht mehr verbanden als das berühmte Suppenhuhn, seinen Mörder Ravaillac und seinen berühmten Penis, von dem er nicht wußte, daß dieser kein Knochen war.
»Heinrich IV. wurde 1553 in Pau geboren und starb 1610 in Paris. Er war der Sohn von Anton von Bourbon und Johanna von Albret. Einer entfernten Cousine von mir, das nur nebenbei. 1572 heiratete er die Tochter Heinrichs II., Margarete von Valois, die ihrerseits eine Cousine meiner Mutter war. Führer der calvinistischen Partei, schwört er dem Protestantismus ab, um der Bartholomäusnacht zu entgehen. 1594 läßt er sich in Chartres zum König salben und zieht in Paris ein. Durch das Edikt von Nantes 1598 stellt er den religiösen Frieden wieder her. Er war sehr beliebt. Ich erspare euch seine zahllosen Schlachten, die interessieren euch ohnehin nicht, vermute ich. Wissen muß man jedoch, daß er unter anderem von zwei berühmten Männern umgeben war: Maximilien de Béthune, Herzog von Sully, der die Finanzen des Landes sanierte, und Olivier de Serres, ein Segen für die Landwirtschaft der damaligen Zeit.«
Camille ihrerseits wollte nichts erzählen.
»Ich weiß nichts«, sagte sie, »und was ich glaube, da bin ich mir nicht sicher.«
»Erzähl uns von irgendwelchen Malern!« ermutigten sie die anderen. »Von Strömungen, Perioden, berühmten Gemälden oder auch von deinen Utensilien, wenn du willst!«
»Nein, das kann ich nicht in Worte fassen. Ich hätte außerdem Angst, was Falsches zu erzählen.«
»Welches ist deine Lieblingsepoche?«
»Die Renaissance.«
»Warum?«
»Weil. Ich weiß nicht. Alles ist schön. Überall. Alles.«
»Was alles?«
»Alles.«
»Gut«, scherzte Philibert, »danke. Knapper geht es wirklich nicht. Falls jemand mehr wissen will, darf ich darauf hinweisen, daß sich die Histoire de l’art von Élie Faure hinter der Enduro-Zeitschrift von 2003 in unserem Wasserklosett befindet.«
»Und sag uns noch, wen du magst«, fügte Paulette hinzu.
»Als Maler?«
»Ja.«
»Ah. Wild durcheinander also. Rembrandt, Dürer, Da Vinci, Mantegna, Tintoretto, La Tour, Turner, Bonington, Delacroix, Gauguin, Vallotton, Corot, Bonnard, Cézanne, Chardin, Degas, Bosch, Velâzquez, Goya, Lotto, Hiroshige, Piero della Francesca, Van Eyck, die beiden Holbeins, Bellini, Tiepolo, Poussin, Monet, Chu Ta, Manet, Constable, Ziem, Vuillard, äh … Furchtbar ist das, ich habe bestimmt ganz viele vergessen.«
»Und du kannst uns zu keinem dieser Typen was erzählen?«
»Nein.«
»Willkürlich ausgewählt. Bellini. Was gefällt dir an ihm?«
»Sein Porträt des Dogen Leonardo Loredan.«
»Warum?«
»Ich weiß es nicht. Da muß man nach London, in die National Gallery, wenn ich mich recht erinnere, und sich das Gemälde anschauen, um sicher zu sein, daß man. Es ist. Es ist. Nein, ich hab keine Lust, mit meinen dicken Flossen darauf rumzuplanschen.«
»Na gut«, ergaben sich die anderen, »ist schließlich nur ein Spiel. Wir wollen dich nicht zwingen.«
»Ah! Ich weiß, was ich vergessen habe!« frohlockte Franck, »den Kamm natürlich! Der kommt in die weiße Soße.«
Camille fühlte sich eindeutig zerlegt.
An einem Montagabend jedoch, im Stau kurz hinter der Mautstelle von Saint-Arnoult, als sie allesamt müde und verdrießlich waren, erklärte sie plötzlich:
»Ich hab’s!«
»Pardon?«
»Mein Wissen! Mein einziges Wissen! Und außerdem weiß ich schon seit Jahren darum!«
»Schieß los, wir sind ganz Ohr.«
»Hokusai, ein Maler, den ich phantastisch finde. Ihr wißt schon, die Woge? Und die Ansichten des Fuji? Na klaaar. Die türkise Woge
mit Schaumkrone? Also er – das reinste Wunder –, wenn ihr wüßtet, was er alles gemacht hat, das ist unvorstellbar.«
»Ist das alles? ›Das reinste Wunder!‹ Mehr hast du dazu nicht zu sagen?«
»Doch, doch, ich sammle mich ja gerade.«
Und im Halbdunkel dieser eintönigen Vorstadt, zwischen einem Industriezentrum links und einem Basar rechts, zwischen dem Grau der Stadt und der Aggressivität der Herde, die in den heimischen Verschlag zurückkehrte, sprach Camille langsam folgende Worte:
»Seit meinem fünften Lebensjahr war ich besessen, die Form der Dinge zu skizzieren.
Nach meinem 50. Lebensjahr machte ich eine Reihe von Grafiken, aber alles was ich vor meinem 70. Lebensjahr produzierte, ist der Rede nicht wert.
Im Alter von 72 lernte ich schließlich etwas über die wahre Natur von Vögeln, Tieren, Insekten, Fischen und die Art der Gräser und Bäume.
Deshalb werde ich im Alter von 82 wohl einige Fortschritte erzielt haben, mit 90 werde ich dann noch tiefer in die Bedeutung der Dinge eingestiegen sein, mit 100 werde ich echt gut sein und mit 110 wird jeder Punkt, jede Linie ihr eigenes Leben haben.
Ich hoffe nur, daß einige Leute so alt werden, um den Wahrheitsgehalt meiner Worte zu erkennen.«
Geschrieben im Alter von fünfundsiebzig Jahren von mir, Hokusai, dem von der Malerei besessenen Alten.
»Jeder Punkt, jede Linie wird ihr eigenes Leben haben«, wiederholte sie.
Alle hatten darin vermutlich etwas gefunden, womit sie ihr armes Gehirn füttern konnten, denn der Rest der Fahrt verlief schweigend.
7
Zu Ostern wurden sie ins Schloß eingeladen.
Philibert war nervös.
Er hatte Angst, ein wenig von seinem Ansehen einzubüßen.
Er siezte seine Eltern, seine Eltern siezten ihn und einander.
»Guten Tag, Vater.«
»Ah, da sind Sie ja, mein Sohn. Isabelle, unterrichten Sie bitte Ihre Mutter. Marie-Laurence, wissen Sie, wo der Whisky ist? Ich kann ihn nicht finden.«
»Beten Sie zum heiligen Antonius, mein Lieber!«
Anfangs kam es ihnen komisch vor, später achteten sie nicht mehr darauf.
Das Diner war beschwerlich. Marquis und Marquise stellten ihnen zahlreiche Fragen, warteten jedoch die Antwort nicht ab, um sich ihr Urteil zu bilden. Darüber hinaus waren es eher heikle Fragen wie:
»Und was macht Ihr Vater?«
»Er lebt nicht mehr.«
»Oh, Pardon.«
»Aber ich bitte Sie.«
»Äh. Und Ihrer?«
»Ich habe ihn nie kennengelernt.«
»Sehr schön. Ne… Nehmen Sie noch etwas Gemüse?«
»Nein, danke.«
Anhaltende Stille.
»Und Sie? Sie sind also Koch?«
»Ja.«
»Und Sie?«
Camille sah zu Philibert.
»Sie ist Künstlerin«, antwortete er an ihrer Stelle.
»Künstlerin? Wie pittoresk! Und … und Sie leben davon?«
»Ja. Das heißt … Ich … ich glaube schon.«
»Wie pittoresk. Und Sie leben im selben Haus, nicht wahr?«
»Ja. Weiter oben.«
»Weiter oben, weiter oben.«
Er durchsuchte im Geiste die Festplatte seines mondänen Telefonverzeichnisses.
»… dann sind Sie also eine kleine Roulier de Mortemart!«
Camille wurde von Panik ergriffen.
»Äh. Ich heiße Fauque.«
Sie führte alles an, was sie auf Lager hatte:
»Camille Marie Elisabeth Fauque.«
»Fauque? Wie pittoresk. Ich habe einmal einen Fauque gekannt. Ein rechtschaffener Mann. Charles, glaube ich. Ein Verwandter von Ihnen vielleicht?«